La fille inconnue

Radikales Engagement: «Une fille inconnue», ein Drama um Verantwortung und Zivilcourage, Schuld und Sühne und radikale Anteilnahme. Ein Meisterwerk der belgischen Filmemacher Jean-Pierre und Luc Dardenne, mit der grossartigen Adèle Haenel in der Hauptrolle.
La fille inconnue

Die Hausärztin Jenny Davin, vielseitig herausgefordert

Eine junge Frau wird tot aufgefunden. Zuvor hatte sie vergeblich in der Praxis der jungen Ärztin Jenny Davin Zuflucht gesucht. Von Schuldgefühlen geplagt, beginnt Jenny, auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen, um wenigstens den Namen des unbekannten Mädchens herauszufinden. Die Menschen, die sie bei ihrer Suche aufspürt, tragen, wie sie selbst, Anteil an der Schuld des Verbrechens. Jenny will sie aufarbeiten, sie klagt nicht an und verurteilt nicht, will nur die Würde der Toten, einer Prostituierten, wiederherstellen und dafür ihren Namen und ihr Grab finden.

Jenny ist «von dem unbekannten Mädchen besessen», meint Luc Dardenne über deren Handeln. Vielleicht ist es diese Besessenheit, die Menschen brauchen, die wirklich Grosses vollbringen: ein Albert Schweitzer, Henry Dunant oder Gandi, auch wenn ihr Tun jenseits der Regeln und Gesetze steht. In diesem Sinn scheint mir der Film «La fille inconnue» verwandt mit dem Roman «La peste» von Albert Camus. Wie dort Dr. Bernard Rieux die Pestkranken pflegt, so pflegt hier Dr. Jenny Davin die körperlich, seelisch oder sozial Leidenden. Sie hilft mit ihrer zurückhaltenden, konsequenten Art aber auch den andern am Tod der Unbekannten Beteiligten, sich ebenfalls zu outen, und «findet durch die Begegnung mit ihren Mitmenschen wieder zurück ins Leben und zu sich selbst», umschreibt die Darstellerin ihre Figur.

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Für die Arbeit als Hausärztin hat Jenny ihre Karriere aufgegeben

Eine spannende Parabel radikaler Anteilnahme

Die Geschichte, die an einer Schnellstrasse in Lüttich handelt, wo die Menschen vorbeirasen, und an der Maas, wo das Leben vorbeifliesst, berührt in ihrer Radikalität. Sie sensibilisiert für die «Verdammten dieser Erde», wie der ebenso radikale Frantz Fanon die Verfolgten und Entrechteten beschrieben hat. Über jene Menschen, die unglücklich durch die Maschen der Sozialnetze gefallen sind und jetzt leiden, drehen die Brüder Dardenne ihre Filme. Auch wenn den Menschen in den Filmen nicht geholfen werden kann, sollen ihre Leiden wenigstens wahrgenommen werden – vielleicht da oder dort über das Mit-Leiden zum Mit-Sein führen.

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Jenny am Ort, wo die Tote gefunden wurde

Jean-Pierre und Luc Dardenne: die Sozialarbeiter des Kinos

«Sozialarbeiterfilme» werden Filme gelegentlich abschätzig getitelt, wenn sie zu idealistisch und nur gut gemeint daherkommen. Für das Oeuvre von Jean-Pierre und Luc Dardenne bedeutet der Titel «Sozialarbeiter des Kinos» jedoch eine Ehre. Ihre Werke sind authentisch, engagiert, wahr und stets der sozialen Wirklichkeit verpflichtet. Von ihren zehn Filmen, die zwischen 1987 und 2016 entstanden und von denen die meisten an Festivals ausgezeichnet wurden, seien nur drei erwähnt, die auf dieser Site besprochen wurden: «Rosetta», 1999, «Le gamin au vélo», 2011, und «Deux jours, une nuit», 2014. Das in jenen Besprechungen Formulierte gilt vollumfänglich auch für «La fille inconnue». Dem Filmkritiker, der beim aktuellen Film eine Schwäche darin ortet, «dass man nichts über das Privatleben von Jenny erfährt», möchte ich entgegnen, dass gerade damit, in meinem Augen, die Figur ihre wahre Grösse als menschliche Symbolfigur erhält.

Wie in all ihren Filmen haben die Regisseure auch bei «La fille inconnue» für die Rolle der Protagonistin eine der besten französischen Darstellerinnen, nämlich Adèle Haenel, verpflichtet, die ihnen im Film «Suzanne» (https://der-andere-film.ch/filme/filme/titel/pqrs/suzanne) aufgefallen ist, für welchen sie Cannes als beste weibliche Darstellerin ausgezeichnet hat. Die magistrale Gestaltung des ganzen Films ist auch hier selbstverständlich und bewundernswert wie eh und je: Jedes Wort und jede Pause, jede Bewegung der Personen und der Kamera, jedes Detail der Innen- und Aussenräume stimmt. Mit dieser meisterhaften Gestaltung verleihen sie dem Film erst seinen grossen humanen Wert.

Der Begriff «unconnu(e)» steckt hinter vielen Kriminalfilmen. Der oder die Unbekannte soll gefunden werden, er oder sie einen Namen bekommen. Im Film der Brüder Dardenne dient diese Suche nach dem Namen doch nicht bloss dem Thrill, sondern zielt auf Existenzielles. Man erinnert sich an «Hiroshima, mon amour» von Alain Resnais. Dort erhält das Unsagbare den Namen Hiroshima, hier die Unbekannte mit dem Namen ihre Würde.

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Jenny, auf der Suche nach Zeugen

Aus einem Interview mit den Regisseuren

Wie entstand die Idee zu Ihrem Film, die Geschichte einer Hausärztin?

Jean-Pierre Dardenne (JPD): Am Anfang stand die Figur einer Ärztin, die wir Jenny tauften. Wir haben uns mehrere Jahre lang über sie unterhalten. Eine Ärztin, die sich am Tod einer jungen Immigrantin mit unbekannten Personalien schuldig fühlt und die sich auf die Suche nach deren Namen begibt, damit sie nicht anonym bestattet wird, nicht einfach verschwindet, als hätte sie nie existiert. – Luc Dardenne (LD): Jenny fühlt sich schuldig, verantwortlich. Sie weigert sich, die Augen zu verschliessen und zu sagen: «Ich habe nichts gesehen, nichts gehört.»

Jenny behandelt ihre Patienten, horcht ihre Körper ab. War es Ihnen wichtig, dieses Abhorchen zu filmen?

LD: Ja. Die Figuren reagieren stark mit körperlichen Beschwerden: Schwächeanfälle, Bauchschmerzen, epileptischen Anfällen. Der Körper reagiert immer zuerst. Er spricht die Dinge aus, für die die Menschen keine Worte finden. Jenny achtet auf die Schmerzen ihrer Patienten. Sie versucht sie zu lindern, während sie weiterhin nach dem Namen des jungen Mädchens fahndet. – JPD: Wir wollten, dass Jenny auf die Körper und die Worte ihrer Patienten achtet und dadurch zu einer Geburtshelferin der Wahrheit wird, dass ihre Praxis zu einem Beichtstuhl wird.

Haben Sie bei echten Ärzten recherchiert?

LD: Eine befreundete Ärztin, die wir seit einigen Jahren kennen, hat uns beim Drehbuchschreiben beraten. Sie war auch dabei, als wir die Szenen mit den ärztlichen Untersuchungen drehten. Ausserdem sind manche Szenen von den Aussagen von Ärzten inspiriert, mit denen wir uns getroffen haben.

Ist nicht auch Jenny ein «fille inconnue», ein unbekanntes Mädchen? Wir wissen nichts über ihre Vergangenheit, ihr Privatleben.

JPD: Sie trifft eine Entscheidung fürs Leben, indem sie auf eine grosse Karriere verzichtet und stattdessen diese Vorstadtpraxis übernimmt, weil sie spürt, dass es ihr nur so gelingen wird, den Namen des unbekannten Mädchens herauszufinden. – LD: Jenny ist von dem unbekannten Mädchen besessen, und diese Besessenheit verleiht ihr die Entschlossenheit und die Geduld, den Namen des Mädchens herauszufinden. Es ist keine übernatürliche, sondern eine moralische Besessenheit. Das hat uns interessiert.

Jennys Patienten leiden in unterschiedlichem Masse an den Übeln unserer Zeit: soziale Unsicherheit, Auflösung des sozialen Zusammenhalts

LD: Diese Figuren leben in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt. Sie gehören jener Gesellschaftsschicht an, die brutal an den Rand gedrängt wird. Allerdings wollten wir aus diesen Figuren keine «Sozialfälle» machen. Es sind Individuen.

«La fille inconnue» spielt in Seraing, in der Provinz Lüttich.

JPD: Seit «La promesse», seit 1996 also, haben wir dort alle unsere Filme gedreht. Noch bevor wir das Drehbuch geschrieben haben, als wir nur die vage Vorstellung von der Figur einer Ärztin hatten, wussten wir bereits, dass wir in der Nähe dieser Schnellstrasse und der Meuse drehen würden. Der Schauplatz von «La fille inconnue» kam uns noch vor dem Drehbuch in den Sinn. – LD: Diese Schnellstrasse inspirierte uns. Unaufhörlich rasen die Autos vorbei, so wie die Welt ihren Lauf nimmt, ohne von den wichtigen Dingen zu wissen, die sich in der kleinen Praxis von Doktor Jenny abspielen.

Gespräch mit Adèle Haenel zum Film «Une fille inconnue»

Regie: Jean-Pierre et Luc Dardenne, Produktion: 2016, Länge: 107 min, Verleih: Xenixfilm