On Vous Croit
Etienne, Alice, Lila und Anwältin der Mutter
Charlotte Devillers und Arnaud Dufeys haben gemeinsam das Drehbuch geschrieben und Regie geführt. Als Fachkraft im Gesundheitswesen, die häufig mit Opfern von Missbrauch arbeitet, hat Charlotte dabei geholfen, einige der intimen Aspekte der Jugendschutzrealität im Gericht festzuhalten. Arnaud, der Regisseur und Produzent, wurde für seine Kurzfilme international ausgezeichnet.
«On Vous Croit» ist ein Kammerspiel der besonderen Art. Schon fast in Echtzeit erzählt es von einer zerbrochenen Familie, die versucht weiterzuleben und die düstere Vergangenheit hinter sich zu lassen. Dabei hat nicht nur das 4:3-Bildformat Bedeutung, sondern neben Ton und Musik die Kamera von Pépin Struye und der Schnitt von Nicolas Bier. Und sobald Alice mit ihren Kindern das Gebäude betritt, verbreitet sich die beängstigende Stimmung der sichtlich unter Stress stehenden Mutter.
Neben der grossartigen Myriem Akheddiou als Mutter überzeugen auch der Vater und Ex-Mann (Laurent Capelluto), die Kinder Etienne (Ulysse Goffin) und Lila (Adele Pinckears). Eine Besonderheit dieses Films ist es, dass die Richterin, Natali Broods, die Anwältin der Mutter, Alisa Laub, die Anwältin des Vaters, Marion de Nanteul, und der Anwalt der Kinder, Mounir Bennaoum, keine Schauspieler sind, sondern privat diese Berufe ausüben.

Alice, der Vater, seine Anwältin
Charlotte Devillers und Arnaud Dufeys zum Film, 1. Teil
(aus einem Interview, das im Anhang integral folgt)
«On Vous Croit» behandelt sehr aktuelle und sensible Themen. Wie haben Sie die Balance zwischen der Realität häuslicher Gewalt und der filmischen Fiktion gefunden?
Von Beginn des Schreibprozesses an haben wir erkannt, dass Gerichtsverhandlungen von Natur aus einer ähnlichen Struktur folgen wie ein Spielfilm oder Theaterstück. Die Reihenfolge, in der Worte gesprochen werden, baut Spannung auf und führt zu fortschreitenden Enthüllungen. Die Verhandlung wurde auf der Grundlage der von uns gesammelten Zeugenaussagen transkribiert, die gewisse Gemeinsamkeiten aufwiesen. Die Szenen vor und nach der Verhandlung waren jedoch fiktional, wurden so gestaltet, dass das Publikum vollständig in Alices emotionale Reise eintauchen kann.
Der Film ist von Ihrer Erfahrung als Krankenschwester inspiriert, Charlotte. Wie hat diese Expertise das Schreiben und die Regie der Geschichte geprägt?
Der Film ist in der Tat von meiner Erfahrung als Krankenschwester sowie von meiner Perspektive als Frau und Mutter inspiriert. Beobachten und Zuhören sind in beiden Berufen von zentraler Bedeutung. Die Geschichten der Patienten zu verstehen und sie einem Team zu vermitteln, ist etwas, was ich täglich gemacht habe. Diese Fähigkeiten haben das Schreiben und Inszenieren des Films beeinflusst.
Sie erwähnen die Bedeutung der Gerechtigkeit in dieser Geschichte. Warum war es für Sie so wichtig, diesen Rechtsstreit und seine Komplexität zu zeigen?
Für uns war es entscheidend, darzustellen, wie die langwierige, sich wiederholende und oft überwältigende Natur von Gerichtsverfahren das Trauma verstärkt. In unserer Geschichte wie im wirklichen Leben können Kinder, die wiederholt aufgefordert werden, ihre Erfahrungen zu schildern, und deren Worte in Frage gestellt werden, sich ungeschützt fühlen.
Aus der Perspektive eines Kindes fühlt sich die Zeit noch länger an, und langwierige, sich wiederholende Gerichtsverfahren haben erhebliche Auswirkungen: medizinische Folgen, Gefühle der Hilflosigkeit und einen tiefen Bruch in den familiären Beziehungen. In Alices Fall ist ihre Bindung zu ihren Kindern stark beeinträchtigt. Über das Trauma des Missbrauchs hinaus müssen viele Opfer das zusätzliche Trauma ertragen, vom Rechtssystem nicht geglaubt oder geschützt zu werden. Gerechtigkeit wird in diesen Fällen zu einem Ort, an dem Wunden immer wieder aufgerissen werden.
Alice (Myriem Akheddiou, 1978 in Brüssel geborene belgisch-marokkanische Schauspielerin)
Warum der Film gedreht werden musste
Der Film bietet in den 78 Minuten Raum für vielfältige Interpretationen. Er belastet mit seinen langen Einstellungen, in denen die Kamera in Close-Ups auf den Gesichtern verharrt. So geht man mit einem schwermütigen Gefühl aus dem Drama, das einen nicht loslässt und keine endgültige Wahrheit präsentiert, genau so wie es sich in der Realität der Justiz verhält.
Je weiter wir in den Film eintauchen, desto mehr beginnen wir zu verstehen, warum Alice sich wie eine Mutterwölfin dafür einsetzt, dass sie das Sorgerecht erhält. Denn allmählich kommen Details an die Oberfläche, dass wir die Familiensituation verstehen ̶ und auch verstehen, dass dieser Film gedreht werden musste.

Das Paar und die Richterin
Charlotte Devillers und Arnaud Dufeys zum Film, 2. Teil
(aus einem Interview, das im Anhang integral folgt)
Die Unschuldsvermutung ist ein grundlegendes Prinzip, kann jedoch im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt besondere Spannungen hervorrufen. Wie haben Sie diese Dimension im Film untersucht und dabei eine ausgewogene Erzählweise und ethische Herangehensweise beibehalten?
Es war nie unsere Absicht, einen Film zu drehen, in dem sich die Spannung darum dreht, wer schuldig und wer unschuldig ist. Wir respektieren uneingeschränkt die Bedeutung der Unschuldsvermutung. Stattdessen haben wir uns auf eine andere kritische Spannung konzentriert: Sollte in Fällen, in denen es um die Aussage von Kindern geht, nicht das Vorsichtsprinzip Vorrang haben?
Kinder sind im Gegensatz zu Erwachsenen nicht in der Lage, über einen längeren Zeitraum hinweg komplexe, schlüssige Lügen aufrechtzuerhalten. Vor diesem Hintergrund stellt sich eine grundlegende Frage: Was ist schwerwiegender, ein geringes Risiko einzugehen, sich in Bezug auf die Schuld eines Erwachsenen zu irren oder ein Kind dem viel grösseren Risiko auszusetzen, Missbrauch oder sexuelle Gewalt zu erleiden? Der Film lädt die Zuschauer ein, über dieses Dilemma nachzudenken und den Stellenwert, den wir den Stimmen von Kindern in unserer Gesellschaft einräumen, zu überdenken. Sollten wir nicht eher bereit sein, ihnen zu glauben und sie zu schützen, insbesondere wenn ihr Mut, sich zu äussern, bereits so gross ist?
PS
Da der Film dem Satz schliesst, «Gemäss einer Schätzung der WHO betrifft Inzest 24 Prozent der Mädchen und 11 Prozent der Jungen, 10 Prozent dieser Opfer erstatten Anzeige, nur 2 Prozent von ihnen bekommen schliesslich recht», gibt es für den Film nur die eine Antwort: «On Vous Croit» und für uns: «Wir glauben euch, Kinder!»
Interview mit Charlotte Devillers und Arnaud Dufeys
Regie: Charlotte Devillers und Arnaud Dufeys, Produktion: 2025, Länge: 78 min, Verleih: Frenetic