Santosh

Als Frau im Patriarchat: Santosh ist 28 Jahre, als ihr Mann bei einem Aufruhr ums Leben kommt. Durch ein Programm der indischen Regierung wird ihr sein Posten bei der Provinzpolizei vererbt. Dafür nimmt die erfahrene Polizistin Sharma sie unter ihre Fittiche. Gemeinsam beginnen sie, im Mordfall eines Mädchens aus einer unteren Kaste zu ermitteln. Ab 22. Mai im Kino
Santosh

Santosh zwischen den Welten

 

Nach drei Kurzfilmen feiert die Drehbuchautorin und Regisseurin Sandhya Suri 2024 mit ihrem Debütspielfilm «Santosh» am Filmfestival Cannes Premiere in der Kategorie Un Certain Regard.

 

Ehe man es sich versieht, ist man bei diesem gut gemachten Film mittendrin im Leben von Santosh und Sharma und beginnt ihnen Schritt um Schritt zu folgen: Santosh wird mit der harten Realität patriarchaler Machtstrukturen konfrontiert, in denen Korruption und Willkür, aber auch angstvolles Schweigen an der Tagesordnung sind. Ihre Mentorin Sharma, selbst aus dem unteren Mittelstand, zeigt der jungen Witwe, wie sie sich als Frau im System der Männerwelt behaupten kann. Zu welchem Preis? Das fragen wir uns zwei Stunden lang.

 

SANTOSH Sister Distribution4

Neu bei der Polizei

 

Die Regisseurin Sandhya Suri zum Film

 

Sie sind eine in London lebende Filmemacherin und haben Dokumentarfilme gedreht, die sich mit der Darstellung Indiens im Film beschäftigen. Wie sind Sie dazu gekommen, einen Spielfilm in Indien zu drehen? Hat die Art und Weise, wie das Land in der Vergangenheit dargestellt wurde, Ihren Ansatz beeinflusst? Indien hat mich immer inspiriert. Dort finde ich die Geschichten, und ich denke, die Gemeinsamkeit zwischen meinen Dokumentar- und Spielfilmen liegt vor allem darin, Fragen zu stellen. Es geht um die Komplexität der Themen und darum, im Film dem Publikum Raum zum Verarbeiten zu bieten. Das habe ich bei all meinen Projekten versucht.

 

Warum gerade diese Geschichte? Es geht um das soziale Gefüge des indischen Lebens und die Korruption in den Systemen. Korruption, die sicherlich nicht nur in Indien vorkommt, aber hier sehr präsent ist. Zunächst hatte ich versucht, einen Dokumentarfilm über Gewalt gegen Frauen zu drehen. Während der Recherche stiess ich auf entsetzliche Details. Ich versuchte, mich in diese Gewalt hineinzuversetzen und sie zu sezieren, gab aber den dokumentarischen Ansatz bald auf. Dann wurde ich 2012 von einem Bild beeindruckt, das nach der schrecklichen Gruppenvergewaltigung in einem Bus in Delhi veröffentlicht wurde. Es zeigte weibliche Demonstrantinnen, die einer indischen Polizistin gegenüberstanden. Der Gesichtsausdruck dieser Polizistin, eine Mischung aus Hass und Wut, faszinierte mich so sehr, dass ich sofort wusste: Das ist der Ausgangspunkt, den ich gesucht habe! Es geht um sie und darum, zu untersuchen, was es tiefer bedeutet, eine Uniform zu tragen, aber auch das gemeinsame Gefühl von Ungerechtigkeit, Opfer und gleichzeitig Täter zu sein. Es geht um sie, weil sie beides ist.

 

SANTOSH Sister Distribution1

Bei einer Fahndung

 

Als Frau das Patriarchat erleben

 

Indirekt und hintergründig erleben wir im Film die vielfältigen Formen des gelebten Patriarchats: im Sexismus, Rassismus und Faschismus. All dies erzeugt auch eine Stimmung von Misstrauen und Verachtung. Darüber schuf die Regisseurin zwei ausdifferenzierte Porträts mit den in Indien hartnäckigen Übeln, aktuell der Islamophobie, weiterhin dem Kastenwesen und der Korruption.

 

Durch die ganze Geschichte zieht sich wie ein roter Faden eine Suche nach Stille, Reinheit, Schönheit und Menschlichkeit, dem wir Schritt um Schritt folgen. Das erfüllt vor allem das Leben von Santosh abwechslungsweis mit Glück oder Unglück, Aufhellung oder Verdunkelung ─ stellvertretend für unzählige andere Frauen in Indien und in der übrigen Welt.

 

Welch eminente, folgenschwere Deutung eine Uniformhaben kann, macht dieser Film deutlich. Dass Santosh tief menschlich und mitfühlend ist, gehört wohl zum Archetyp des Matriarchats, das im indischen Leben, und auch im Kino, eine grosse Rolle spielt. Die Eigenschaften verleihen ihr Tiefe. Und dennoch bleibt sie uns auch am Ende noch immer ein Rätsel. Ähnlich offen und geheimnisvoll bleibt auch die Figur von Sharma, die Möglichkeiten zum Leben im Patriarchat erkundet.

 

SANTOSH Sister Distribution6

Sharma, die Lehrmeisterin, Santosh, die Schülerin

 

Zwei grosse Schauspielerinnen

 

Beide Protagonistinnen zeigen eine grossartige Performance: Shahana Goswami als Santosh, Sunita Rajwar als Sharma. Die zwei Figuren spielen die Handlung wie eine Parabel, symbol- und aussagenstark wie etwa die Parabel von Kain und Abel. Dass ihre Innenwelt erlebbar und glaubhaft wird, schafft Sandhya Suri durch Nähe und Intimität, durch Verweilen und Empathie, visuell unterstützt von der Kamera von Lennert Hillege, akustisch der Musik von Luisa Gerstein.

 

Wie eine solch überzeugende Authentizität bei dieser für uns eigentlich fremden Geschichte entstand, erklärt die Regisseurin im Interview: «Tagsüber recherchierten wir drei bei der Polizei, abends verarbeiteten wir diese Informationen im Drehbuch und beim Drehen war uns die Erinnerung an die Begegnungen mit dem Polizeipersonal nahe. So entstand ein Psychothriller, eingebunden in eine soziologische Analyse, die zu einem Weltdrama vertieft und erhöht wurde.» Dies lief etwa so ab: «Erinnerst du dich an jene Polizistin im Gespräch, die wir heute getroffen haben? Wie glaubst du, würde jener Polizist das Verhör angehen? Was würde wohl in jener Situation geschehen?»

 

SANTOSH Sister Distribution3

Die versammelte Macht der Männer

 

Was für eine Frau wird Santosh am Schluss?

 

Wie haben Sie sich für Santoshs Werdegang entschieden? Wo sollte sie im Film enden? Ich wusste immer, dass sie gehen würde. Es sollte nicht um den guten Cop in einem schlechten System oder um Rache gehen, das hätte sich nicht ehrlich angefühlt. Ihre einzige Option war, zu gehen. An einer Stelle sagt Sharma zu Santosh: «Du kannst eine Frau wie ich sein oder zu einer Frau werden, die nichts ist.» Am Ende des Films meint Santosh: «Vielleicht gibt es einen dritten Weg, eine Frau zu sein.» Sie weiss noch nicht, was das bedeutet, aber sie nimmt den Zug nach Mumbai und erkennt, dass sie jetzt ein neuer Mensch ist.

 

Ich interessierte mich für genau diese Grauzone moralischer Unklarheit und will herausfinden, was passiert, wenn die Frau die Grenze überschreitet. Kann sie zurückkommen? Und was dann?

 

PS: Premiere in Indien

 

Haben Sie die Chance gehabt, den Film in Indien zu zeigen? Wenn ja, wie war die Antwort des indischen Publikums? Offensichtlich war das, was mich am nervösesten machte, die Antwort aus Indien, aber die beiden Vorführungen, die wir in Dharamshala und Mumbai hatten, waren fantastisch. Ich denke, was geschätzt wird, ist, dass die Dinge mit einer leichten Berührung behandelt werden, so dass sie sich als eine Art Spiegelung der Fragen stellt.

Die Zitate stammen aus einem Interview für «The Metrograph»

Regie: Sandhya Suri, Produktion. 2024, Länge: 128 min, Verleih: Sister Distribution