Shell

Auf der Suche nach Liebe Shell und ihr Vater Pete brauchen sich und haben nur sich. Scott Grahams Film «Shell» geht an die Grenzen dieser Suche: aufgewühlt und aufwühlend.

 

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Die siebzehnjährige Shell lebt mit ihrem Vater Pete in der Einsamkeit einer abgelegenen Tankstelle im hügeligen schottischen Hochland. Es ist kalt, windet und regnet. Gefangen in der kargen Landschaft kämpft das Mädchen mit ihren konfusen Gefühlen um ihren Vater, der sich von ihr zurückzieht. Sie verbringt ihre Tage mit den notwendigen Verrichtungen auf der heruntergekommenen Tankstelle und umsorgt den schwermütigen und epileptischen Vater. Er repariert gelegentlich Autos, nimmt sie auseinander und entsorgt sie. Gelegentliche Schäferstündchen mit dem jungen Mechaniker Adam sind für Shell eher ernüchternd denn befriedigend. Mit jedem vorbeidonnernden Lastwagen zieht ein Stück Leben an ihnen vorbei, was in ihr stets neue Sehnsucht nach Leben und Liebe weckt.

«Ich will, dass die Beziehung, die Shell zu ihrem Vater hat, eine Beziehung ist, der man sich schwer entziehen kann, beziehungsweise sie nur schwer ablehnen kann. Je länger wir Shell und Pete in der Wildnis beobachten, desto besser verstehen wir, wie sehr die beiden geliebt zu werden bedürfen – nur nicht voneinander. Ich will, dass das Publikum sich in der Liebesgeschichte verliert. Ich will, dass es ab und zu vergisst, dass es sich bei Pete und Shell um Vater und Tochter handelt», meint der 1974 in Aberdeen geborene Scott Graham, der Regisseur dieses mehrfach ausgezeichneten ersten Langspielfilmes. Was er mit solcher Vehemenz vertritt, erreicht er auch während der 90 Minuten. Die zwei Menschen sind, jenseits von Gewohnheiten und Tabus, ein Paar, das für Augenblicke die Einsamkeit des Einzelnen aufhebt, um sie danach umso intensiver erleiden zu müssen.

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Shell in ihrer existenziellen Zerrissenheit

Ein aufgewühltes und aufwühlendes Kammerspiel
Die raue, spröde Landschaft, eine eindringliche «paysage d’âme, zeigt stimmig zwei zutiefst isolierte Menschen, eingehüllt in melancholische Windgesänge, mechanische Alltagsgeräusche und drei Songs von Mark Knopfler, Isobel Campbell und Kenny Anderson. Im Mittelpunkt dieser Film füllenden Einsamkeit steht die zerbrechliche und dennoch aufbegehrende Shell. Sie ist, ihrem Namen folgend, ein weiches, verletzliches, zärtliches Muscheltier und gleichzeitig Teil einer harten, unpersönlichen Wirtschaftswelt. Ihre Gefühle, die sie, eingespannt in ein grosses Nein, nicht ausleben kann, implodieren und würgen sie innerlich.

Durchfahrende haben nachts ein Reh totgefahren; es kommt in ihre Garage, wo es ausgeweidet wird; mehrmals zuvor haben wir bereits ein Reh vor der Tankstelle gesehen: allein dastehend und suchend wie Shell in ihrer ungelebten Beziehung. Aussagekräftig immer wieder das «Closed»-Schild an der Tür: geschlossen, für andere, den Andern, die Andere. Insgesamt ist «Shell» ein berührender, aufwühlender, gelegentlich verstörender Film. Von Ferne erinnert er mit den Personen an «Paris Texas» von Wim Wenders, in seiner Verinnerlichung an Filme von Adrej Tarkowskij, in seiner schieren Ausweglosigkeit an das «Traumspiel» von August Strindberg.

Fast wie zufällig scheint diese Geschichte Scott Graham zugefallen zu sein: «Auf meinen Fahrten von Glasgow, wo ich heute wohne, in den Norden Schottlands, wo ich aufgewachsen bin, bin ich an verwahrlosten Tankstellen und Raststätten vorbeigefahren und habe dabei gedacht, dass ich gerne einmal ein Road Movie drehen würde.» Entstanden ist kein Road Movie, eher ein «Roadside Movie», ein Film am Rande der Strasse, an welcher das Leben vorbeifährt.

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Shell rennt um auf der Suche nach Leben, nach Liebe.

Das Kammerspiel «Shell» handelt fast ausschliesslich an einem einzigen Ort, wo Shell und Pete die Höhen und Tiefen ihrer Beziehung zu leben versuchen. Pete weiss, dass er Shell gehen lassen sollte, aber er ist abhängig von ihrer Hilfe, ihrer Liebe, vom Licht und der Wärme, die sie verströmt. Shell realisiert nach einiger Zeit, dass sie ihre Mutter, die aus der Familie ausgezogen ist, nicht ersetzen kann und lernt zu verstehen, warum sie Pete verlassen muss. «Obwohl das Ende des Films Shells Zukunft offen lässt, hoffe ich, dass es auf das Publikum ebenso erlösend wie auf Shell wirkt», meint der Autor und fordert unsere Anteilnahme bis in den unerwarteten Schluss hinein.

Dass diese Schicksale so tief in uns eindringen, hängt neben der grossartigen Regie und den suggestiven Bildern von Yoliswa Gärtig von den beiden überzeugenden Protagonisten ab: von Chloe Pirrie als Shell und Joseph Mawle als Pete. Er war bisher vor allem auf der Bühne und im Fernsehen aufgetreten. Sie spielte hier ihre erste Hauptrolle. Sie brachte auch die Idee des Rehs ins Drehbuch, welches ihr als Chloe wie als Shell entspricht. Beide gehen an die Grenzen üblicher Darstellung von Gefühlen und überschreiten sie gelegentlich. Shells Flucht am Schluss weist über den Film und über das Thema hinaus.

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