Where the Wind Comes from
Nach hier oder dort
Im Mittelpunkt der Geschichte steht eine innige Freundschaft: Alyssa, eine rebellische 19-Jährige, die sich neben der Schule um ihre kleine Schwester und ihre kranke Mutter kümmern muss, tagein, tagaus davon träumt, der Perspektivelosigkeit ihres Landes zu entfliehen; ihr Freund Mehdi ist mit seinen Wünschen zurückhaltender, während er sich halbherzig um einen IT-Jobs bewirbt, hofft er insgeheim, von seiner Kunst leben zu können.
In der Nachbarschaft aufgewachsen, stehen sich die beiden seit jeher wie Geschwister nah. Sie tüftelt an der gemeinsamen Zukunft. Als sie zufällig auf einen Kunstwettbewerb aufmerksam wird, überredet sie ihn zur Teilnahme. Als Preis lockt eine Reise nach Deutschland. Obwohl das Auswandern eher ihr als sein Traum ist, lässt er sich von ihrem Enthusiasmus anstecken. Der Wettbewerb findet auf Djerba, über 500 Kilometer von Tunis entfernt, statt. Das fordert sie mehrfach heraus.

Fantasie ist gefragt
Ein Wohlfühlfilm, der die Schleusen der Fantasie öffnet
Die Inhaltsangabe erzählt nur den Vordergrund des Films. Die Regisseurin hat ihn mit Ober- und Untertönen, überraschenden Nebenhandlungen und fantastischen Zutaten leichtfüssig und klug angereichert. Zauberhaft die Liebesgeschichte, sinnierend die anderen Themen, spannend und unterhaltsam zwischen Tradition und Fortschritt pendelnd. Grossartig komponiert und austariert wird die Geschichte von Amel Guellaty, faszinierend gespielt von Eya Bellagha als Alyssa und Slim Baccar als Medhi, bereichert mit der Authentizität und Intimität der Kameraarbeit von Frida Marzouk und den sphärischen und surrealen Melodien von Omar Aloulou. Bilder, Töne und Bewegungen verschmelzen auf subtile Weise, so dass man sich oft vorkommt, wie in einem surrealen Bild von Salvador Dali davonzuschweben.
«Ich denke, jeder Mensch hat Fantasie, unabhängig von seinem sozialen oder wirtschaftlichen Hintergrund. Meine beiden Figuren haben eine überbordende Vorstellungskraft, die ihnen helfen kann, manchmal der rauen Wirklichkeit zu entkommen. Sie nutzen ihre Fantasie um sich näherzukommen. Gemeinsam von einer besseren Zukunft zu träumen ist viel wirkungsvoller, als allein zu fantasieren». Dieser Kommentar der Regisseurin erinnert an den Satz des brasilianischen Erzbischofs und Menschenrechtlers Dom Helder Camara: «Wenn wir alleine träumen, ist es nur ein Traum. Wenn wir gemeinsam mit anderen träumen, ist es der Beginn der Realität».
Spielerisch leicht und dennoch ernst erzählt Amel Guellaty von einer Generation, die das Erbe des Arabischen Frühlings mit Fantasie, Humor und Improvisationstalent antritt. Mehdis Zeichnungen erwachen dezent zum Leben, Alyssas Vorstellungen sorgen für feine Tupfer, und arabische Indie-Musik trägt das Paar durch die Landschaften. Es entsteht das Porträt einer aufgeschlossenen Jugend, die wie überall auf der Welt ihr eigenes Potenzial entdecken muss, das manchmal greifbar nah, manchmal unerreichbar fern liegt: «Ich wollte zeigen, dass junge Menschen kämpfen, aber gleichzeitig wollte ich kein Drama gestalten. Ich wollte eine Komödie machen, in der wir diese Kreativität, diese Energie sehen können. Es ist eine Art Ode an die Jugend in meinem Land» - seiner Poesie und Radikalität wegen wohl auch in jedem anderen Land.

Schreien, dass wir nicht ersticken
Amel Guellaty, ein neues Gesicht im tunesischen Film
Amel Guellaty, *1988, ist eine tunesische Regisseurin, Drehbuchautorin und Fotografin. Nach einem Jurastudium an der Sorbonne arbeitete sie als Regieassistentin in Frankreich. Ihr Kurzfilmdebüt «Blac Mambo» lief auf mehr als 60 Festivals und gewann 20 Preise. Es folgten 2027 ein Kurzfilm und ein Projekt über Gewalt gegen LGBTQIA+-Personen in Tunesien. Ihr erster Langspielfilm «Where the Wind Comes from» feierte 2025 am Sundance-Festival Premiere. Mit diesem Film reiht sie sich neben Kaouther Ben Hanias «Les Filles d’Olfa», «La Belle et la Meute und «The Man Who Sold his Skin» und neben Erige Sehiri mit «Under the Fig Trees» in die Reihe des aufblühenden tunesischen Filmschaffens ein, und dort ist ihr Film verortet.

Ab nach Djerba
Interview mit Amel Guellaty
Was hat Sie dazu bewogen, in Ihren Kurzfilmen und auch in Ihrem ersten Spielfilm die tunesische Jugend ins Zentrum zu stellen?
Die Jugend ist eine Lebensphase, die mich schon immer interessiert hat. Die Energie, die Unbeschwertheit, der Drang, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, den Status quo herauszufordern und gegen festgefahrene Regeln zu rebellieren, all das inspiriert mich sehr. Vor allem aufgrund ihrer kulturellen Vielfalt fasziniert mich die tunesische Jugend besonders. Als arabische und afrikanische Jugend verkörpert sie Offenheit und Freiheitsdrang, bleibt zugleich aber fest in Traditionen und kulturellem Erbe verwurzelt, eine spannende Mischung, die ich als unglaublich reich wahrnehme. Es ist aber auch eine Jugend, die unter Verzweiflung, Vernachlässigung und schlechter Behandlung durch die Machthaber leidet. Viele träumen davon, ihr Heimatland zu verlassen, doch ihre Hoffnungen werden erstickt, bevor sie sich auch nur im Ansatz entfalten können. Das berührt mich sehr. Eben diese Verletzlichkeit macht die tunesische Jugend für mich zutiefst liebenswert. Sie verdient weit mehr Aufmerksamkeit, als sie erhält, weshalb ich mich leidenschaftlich dafür einsetze, sie sichtbar zu machen.
Vor allem die junge tunesische Frau fasziniert mich immer aufs Neue. Sie ist stark, widerstandsfähig und entschlossen. Tunesien ist das arabische Land, in dem Frauen die meisten Freiheiten geniessen, oft mehr als in manch westlichem Staat, wie das gesetzlich verankerte Recht auf geschützte Abtreibung zeigt. Tunesische Frauen arbeiten unermüdlich, verkörpern Modernität und sind gleichzeitig an die soziokulturellen Normen arabisch-muslimischer Traditionen gebunden, die ihnen eine grosse Verantwortung für Kinder und Haushalt auferlegen. Tunesische Frauen sind Kämpferinnen. Diese ständige Spannung zwischen Modernität und Tradition, zwischen Widerstandskraft und täglichem Kampf, genau diese Dualität ist es, die ich an der tunesischen Jugend und insbesondere an den Frauen so beeindruckend und bewundernswert finde.
Weitere Antworten zu Amel Guellaty finden sich im Interview von Yanick Ammann (trigon-magazin, N° 104): Interview mit Amel Guellaty