Segnali di vita
Nach Lignan, einem winzigen Dorf hoch über dem Valle d'Aosta, kommt Paolo Calcidese, ein Astrophysiker aus Mailand, ins dortige Observatorium, um Sterne zu beobachten, bis ein Teleskopausfall ihn zwingt, diese Arbeit liegen zu lassen.
Mit «Segnali di vita», seinem dritten Film, reflektiert der sizilianische Regisseur Picarella die Verbindung zwischen Wissenschaft und Menschlichkeit. Neben Paolo spielt ein winziges wirbelloses Tier, das in der Lage ist, extreme Umweltbedingungen zu überleben und aus einem Zustand des scheinbaren Todes wieder zu erwachen, eine Rolle. Ein Bild, das den Körper dieses Bärtierchens unter dem Mikroskop zeigt, überlagert von dem im Schlafsack gehüllten Paolo, lässt uns auch ihn als ein Individuum wahrnehmen, das aus einer ähnlichen Bewusstlosigkeit zum Leben erwacht.
Der Film lebt von einer Vielzahl von Gegensätzen: So laden die Blicke zu den Sternen ein, den Menschen im Dorf interessiert in die Augen zu schauen. Und während seiner Befragungen begegnet der Forscher Menschen, die wie er auf ihre eigene Weise von Unruhe geplagt sind: einem alten Mann, der hofft, von einer Witwe Zuneigung zu erhalten, einer jungen Bäuerin, die einen grossen Betrieb führt, aber dennoch beim Verkauf einer Kuh über deren Abschied trauert, und einem Vater, der seine kleine Tochter grosszieht, während seine schwangere Frau ans Bett gefesselt ist.
In die harmonisch und klug komponierten Szenen eingebaut, bewegt sich die Diskussion in «Segnali di vita» auf vielfältige Weise um Wissenschaft und das, was die Leute darunter verstehen, letztlich um den ewigen Kampf zwischen Wissen und Glauben. Dieser wird von Begegnung zu Begegnung anteilnehmender und herausfordernder, bis er auch bei Paolo Nachwirkung zeiget, eine bisher unberücksichtigte Lebensform zu leben.
Aus dem Statement des Regisseurs Leandro Picarella
«Segnali di vita» ist ein Film über Empathie und das Bedürfnis, sich durch den Austausch mit anderen Menschen selber besser zu verstehen. Im Mittelpunkt steht der Astrophysiker, der im Auftrag seines Chefs das wissenschaftliche Wissen der Bevölkerung ermitteln soll und dabei sein Bedürfnis nach Beziehung, Kontakt und Gemeinschaft entdeckt.
Sommer 2022, nach der Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen kehrt die Welt langsam zur Normalität zurück. Paolo, dessen persönliche Krise sich immer deutlicher zeigt, flieht ins Observatorium in den Bergen. Hier will er sich voll auf seine Forschungen über aktive galaktische Kerne, Astrobiologie und Robotik konzentrieren. Ausser ihm arbeitet in den Wintermonaten hier oben niemand. Sein einziger Gefährte ist ein Roboter namens Arturo. Doch kaum hat die Arbeit begonnen, funktioniert das Teleskop nicht mehr richtig, was bedeutet, dass er seine Forschungen unterbrechen muss. Um die Zeit bis zur Reparatur zu überbrücken, erhält er den neuen Auftrag, bei den Bewohnern der umliegenden Bergdörfer eine Umfrage zu machen, zu ermitteln, wie hier wissenschaftlich kaum haltbare Annahmen und Überzeugungen verbreitet sind. Diese Umfrage zwingt ihn, sich mit Menschen und ihren Lebensweisen auseinanderzusetzen, die völlig anders sind, als er sie aus der Grossstadt und der Welt der Wissenschaft kennt. Die neuen Erfahrungen bringen ihn dazu, eine unerwartete Empathie mit den Bewohnern und mit sich zu entwickeln.
Cinema du Réel und die Gemeinschaft
Von Anfang an war mir bei diesem Projekt klar, dass es sehr wichtig ist, mich auf den Ort und die Menschen, die dort wohnen, voll einzulassen. Deshalb habe ich mich in der Entwicklungsphase vor allem darauf konzentriert, Zugang zur Berggemeinschaft zu finden und das Vertrauen der Talbewohner zu gewinnen, bevor ich über Geschichten und Umsetzung nachdenken konnte. In dieser Phase lernte ich Silvia, Severino, Gabriele, Agata und die übrigen Frauen und Männer der Gemeinde Saint Barthélemy kennen. Als diese Entwicklung abgeschlossen war und die eigentliche Produktionsphase beginnen konnte, beschloss ich, ähnlich wie Paolo, für die Dauer der Realisierung des Films nach Lignan zu ziehen. Die Idee war, nicht sofort mit den Dreharbeiten zu beginnen, sondern zunächst die menschlichen Beziehungen zu vertiefen, ohne etwas zu erzwingen. So konnte ich, ausgehend von einer tiefen Verbundenheit mit dem Ort, meine Erforschung des Cinema du Réel und der Vermischung von Realität und Fiktion fortsetzen.
Im gesamten Tal leben etwa dreissig Einwohner, zehn davon in Lignan. Durch den Film ist die Dorfgemeinschaft selber neu aufgeblüht, viele Erinnerungen bei den Bewohnerinnen und Bewohner sind wieder lebendig geworden, und die Menschen haben viel über sich erzählt. Dass der Film so zu einer Art Klebstoff für die Gemeinschaft wurde, war nicht beabsichtigt, und doch kann man sagen, dass dies für mich und das gesamte Team ein Geschenk war, vielleicht das grösste.
Neben dem untersuchten Bärtierchen, das zu einer Metapher wurden, bildete auch Arturo ein Gegengewicht zu unserem Wissenschaftler und wurde zu einer signifikanten Figur, indem er Paolos Reise zur Entdeckung der Empathie begleitete. Eine weitere Schlüsselrolle spielt der Fragebogen zum Wissenstand der Bevölkerung. Diese Szenen geben Einblick in zwei gegensätzliche Welten, welche die heutige Welt über das kleine Universum von Lignan hinaus prägen: auf der einen Seite die Wissenschaft und die wissenschaftlichen Methoden, auf der anderen Seite der Volksglaube und die traditionelle Kultur.
Die Wissenschaft, wie wir sie in unserem Film zeigen, ist keine Wissenschaft, die sich hinter absoluten Gewissheiten verschanzt, sondern eine Wissenschaft, die durch eine sorgfältige Vermittlung Gemeinschaft schaffen kann. Der Schluss, mit der Kamerafahrt von der Kuppel des Planetariums hinaus ins Tal und dann hinauf zu den Sternen, soll diesen Aspekt betonen: Wir Menschen sind Teil des wissenschaftlichen Labors der Existenz.
Ein Film zum Mitnehmen auf die einsame Insel
Ergriffen und aus dem Alltag entführt, versuche ich stichwortartig, holprig, sprunghaft ein paar Eindrücke wiederzugeben, die sich bei mir eingebrannt haben:
Mit jedem Tag beginnt das ganze Leben neu. Ein Wunder, wenn sich Menschen wirklich näherkommen. Reine Poesie. Eine Parabel über die Vielfalt des Wahrnehmens und der Wahrnehmung. Begegnungen, von innen beschrieben. Annäherung an das Erwachen des Lebens, der Sympathie, der Liebe. Einsamkeit, ausgelotet bis zur Zweisamkeit. Erzählungen mit Geschichten, die das Leben schrieb. Lernen der Sprache unter dem Sternenhimmel. Wie Strukturen ins Chaos versinken und als Phoenix auferstehen. Was bleibt, ist Staunen, Schweigen, Glück. Leben als immer neues Sich-Bewegen. Glücklich, wer die Sprache der andern gelernt hat. Ein Hymnus auf das Irren ist menschlich. Grossartig, wie Kamera (Andreas José di Pasquale), Schnitt (Fabrizio Paterniti Martello) und Musik (Tomek Kolczyński) Menschen verbinden können. Der Himmel sendet Botschaften, wenn wir nur nach oben schauen. Ich nehme «Segnali di vita» mit auf meine einsame Insel.
Der Song in Leandro Picarellas Film stammt von Franco Battiato: