Fluchen und flüstern
Vielleicht half momentan eine Schulordnung, ein Krisenkonzept, ein Rückgriff auf die Schulpflege oder Polizei. Doch richtig wohl wurde es einem dabei nicht, denn wir wussten, dass das wirkliche Problem dabei ungelöst blieb. «Was können wir in solchen Situationen tun?», fragen wir uns und suchen Antworten. Der Schweizer Dokumentarfilm «Fluchen und flüstern» von Frédéric Gonseth und Cathrine Azad gibt Antworten, die uns im einen oder andern Fall helfen.
Christopher und Adrian aus der Schweiz, Reis aus Kosowo und Shpetjim aus Albanien, vier Jungen zwischen 13 und 18, sind wegen Gewaltbereitschaft aus der Schule ausgeschlossen worden und leben jetzt im Home-Chez-Nous in Le Mont-sur-Lausanne. Dort erhalten Minderjährige einen Lebens- und Ausbildungsrahmen, jährlich einmal bietet das Heim dafür eine Wanderwoche an. Dieses Jahr wird sie, auf Vorschlag der Filmemacher, durch etwas Neues ergänzt. Die Burschen erhalten ein Pferd zur Betreuung und damit Gelegenheit, unter Leitung eines «Flüsterers» zu lernen, mit Pferden zu kommunizieren, sie zu erziehen. Der Film beschreibt als Roadmovie das einwöchige Trekking durchs Emmental und berichtet, was in der Gruppe, die von zwei Erzieher begleitet wird, dabei abläuft.
Einflüstern statt dressieren
Die Jugendlichen erfahren, dass man den Pferden hilft, ihre Aggressionen zu beherrschen, indem man ihnen in ihrer Körpersprache entschieden und konsequent entgegentritt. Insofern dies ohne den pädagogischen «Militarismus» geschieht, erwächst daraus allmählich eine Beziehung zwischen Pferd und Mensch. Die Jugendlichen erleben und beginnen zu verstehen, dass solches auch bei ihnen, die im Clinch mit der Umwelt und Gesellschaft stehen, möglich werden kann. Und wir fragen uns, ob eine solche Methode nicht auch andern «Jugendlichen mit Schwierigkeiten» helfen würde, ihren Weg zu finden?
Neue Blickwinkel und Zugänge
Der Filme ist in meinen Augen kein ästhetisches Meisterwerk, obwohl der Einsatz von Kamera und Ton hohe Professionalität verrät. Die einzelnen Geschichten wirken für mich inhaltlich und dramaturgisch nicht immer abgerundet. Doch das ist nachzusehen, wenn man bedenkt, unter welchen Bedingungen gefilmt wurde. Da fehlen gelegentlich Bilder, enden Sequenzen etwas abrupt. Der Film jedoch überzeugt durch seine Authentizität. Sie gibt gerade durch das Fragmenthafte und Unvollendete Lehr- und Erziehungspersonen, die mit «schwierigen Jugendlichen» arbeiten, wertvolle Anregungen, wenn sie bereit sind, sich dem Neues zu öffnen.
Einmal ist es der Zugang, den die «Pferdeflüsterer» bei ihrer Arbeit wählen, der uns die Augen öffnen kann. Geduld strahlen sie aus, gepaart mit Konsequenz und Respekt. Und nicht in der Sprache, die man selber spricht, wird mit den Pferden gesprochen, sondern in jener der Pferde, also der Sprache der «andern». Diese muss man auch bei den Menschen verstehen und sprechen. Also hinzuhorchen gilt es, was uns zum Beispiel ein mit Aggressionen voll geladener junger Mensch sagen will.
Im Weiteren könnten Lehrerinnen und Lehrer, die in der Pädagogik ausgebildet wurden, den etwas anderen Ansatz der Sozialpädagogik kennen lernen. Dieser eröffnet andere Blickwinkel, bietet einen andern Zugang. Die beiden Erzieher im Film fragen stets danach, auf welche Art die jungen Menschen in ihrer Vergangenheit verwundet, verletzt, beschädigt wurden, und nicht, auf welche Weise sie heute jemanden verwundet, verletzt, beschädigt haben, wie wir es als Lehrkräfte und Schulbehörden zu tun pflegen.
Dass die vier Pferde, die auf die Wanderung kommen, für den Schlachthof, zum «Entsorgen» bestimmt waren, macht die jungen Männer, die mit ihnen eine Woche lang zusammen gelebt haben, sehr betroffen. Es lässt bei ihnen bekannte, doch im Alltag verdrängte Gefühle wieder hochkommen. Zur Genüge haben sie erfahren, dass sie ungewollt waren, dass sie nie geliebt wurden, dass sie abgeschrieben, zum «Entsorgen» bestimmt waren. Durch dieses pädagogische Unternehmen erleben die vier Jungen, dass auch sie lernen können, sich aufrichten zu lassen, sich selbst aufzurichten, nachdem sie mit den Pferden erfahren haben, wie dies möglich ist.