La fille de son père

Wie glückliche Menschen sich trennen: Erwan Le Duc hat mit «La fille de son père» einen verspielten, temporeichen und mehrschichtigen Film über eine Tochter-Vater-Beziehung gedreht, der zeigt, wie kompliziert, aber auch wie schön es sein kann, wenn jemand von zuhause auszieht, ohne den andern wirklich zu verlassen.
La fille de son père

Tochter Rosa und Vater Étienne

Étienne (Nahuel Pérez Biscayart) lernt Valérie (Mercedes Dassy) bei einer Demonstration kennen. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Und bald schon wird ein Kind geboren. Als die Mutter die beiden dann aber verlässt, beschliesst der Vater, seine Tochter allein aufzuziehen. Beide haben es gut miteinander und sind glücklich, bis die 17-jährige Rosa (Céleste Brunnquell) ihren Vater verlassen soll, in einer Trennung, die die Vergangenheit wieder aufleben lässt. «Am Anfang ist Etienne 20 Jahre alt und er ahnt nichts.» Dies der einzige Satz in den ersten Minuten des Films, der getragen wird von Julie Roués mitreissender Musik, der im Film noch viele weitere Akzente setzt.

Erst nach etwa acht Minuten Ouvertüre beginnt die Haupthandlung. Rosa wird als Gymnasiastin an der Kunstschule von Metz zugelassen. Sie will weg, doch ohne den Vater zu erlassen. Er empfiehlt ihr Selbstständigkeit, was jedoch auch ihm nicht leicht fällt. Étienne versucht, sich aus der gängigen Praxis ähnlicher Beziehungen zu lösen. Dabei entsteht eine unterhaltsame und tiefsinnige Komödie, in der viel, mit der Fantasie des Regisseurs Erwan Le Duc noch viel mehr möglich wird. Richtig nah kommen sich Vater und Tochter bei einem persönlichen Gespräch:

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Étienne mit der neugeborenen Rosa

Es gibt keine verlorene Liebe

«Papa, hast du Mama geliebt?»
«Ja. Liebst du sie noch?»
«Nein. Abwesenheit ist kein Gefühl.»
Was heisst das? Man kann jemanden, der nicht da ist, nicht lieben.»
«Sicher?»
Ja, es ist wie mit allem im Leben, man muss sich entscheiden, wenn man aufhört zu lieben, ist es für immer weg.»
«Du könntest also entscheiden, mich nicht mehr zu lieben?»
«Das ist unmöglich, ich werde dich immer lieben, bedingungslos.»
«Selbst wenn ich nicht mehr da bin?
«Wir werden immer zusammen sein.»

Damit sind die beiden im Hier und Jetzt. Nach dieser auf Rosas Leben zugeschnittenen «Éducation sentimentale» gibt es immer wieder Phasen der Zuversicht und des Widerspruchs, was gelegentlich auch zu hübschen und lustigen Szenen führt. Während Rosa einige Episoden ihres noch jungen Lebens und Liebens, mit dem ersten Flirt, dem ersten Sex und dem Führerschein durchspielt, stellen beide fest, dass Rosa sich allmählich und endgültig von der Kindheit verabschiedet. Zwischen den beiden gibt es erheiternde, aber auch hintergründige Spiele und Spielchen. Die Montage von Julie Dupré ermöglicht es stets, von einer Geschichte in eine andere zu wechseln. Wie der Film hin und her switcht, so sind auch wir angehalten zu switchen und dabei ästhetische Turnübungen zu machen. Hélène (Maud Wyler), Étiennes neue Geliebte, möchte mit ihm in eine neue Wohnung ziehen und auch ihn ins «Erwachsenwerden» locken. In einem intimen Gespräch tauschen sich Rosa und Hélène darüber aus: Hélène: «Ich stehe auf geschädigte Männer. Étienne ist der einzige Mann, der nach dem Sex an meinen Brüsten weinte». Rosa: «Ich wollte nur wissen, ob du dich gut um ihn kümmern wirst. Ich übergebe ihn dir. Wenn du ihm wehtust, bringe ich dich um.»

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Youssef, Rosas Freund

 Aus verschiedenen Perspektiven

Die recht unübliche Situation in dieser Familie wird von drei Menschen mit verschiedenen Mitteln zur Darstellung gebracht. Rosa malt Bilder des Aufbruchs und der Zerbrechlichkeit, mit denen sie aber schliesslich immer wieder Schönheit aufblühen lässt. «Ich habe meine Mutter nie kennengelernt, das ist nicht schlimm und ich vermisse sie nicht.» Doch kommt ihr diese nicht gelebte Beziehung nah und näher, bis zum Höhepunkt in der abschliessenden Sequenz des Films. Mit Worten begleitet Youssef, Rosas Freund, die Ereignisse in dieser Familie. Damit legt er den Finger auf verborgene Wunden, und seine Texte durchleuchten die hintersten Winkel des Hauses, mit all den unglücklichen, aber auch den poetischen Momenten. Nochmals anders verarbeitet dieses Familienkonstrukt Étienne. Als Trainer einer Amateurfussballmannschaft und angesichts der Tatsache, dass Fussball ein soziales, völkerverständigendes Ereignis ist, findet er in diesem Match immer Zeit und Raum für einen Corner oder Penalty, eine gelbe oder rote Karte. Urkomisch die Szene, in der die ganze Mannschaft bei der Theorie mit dem Trainer leise «Coucou Hibou» zu singen beginnt, um Rosas Baby einschlafen zu lassen.

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Hélène und Rosa

 Ein Link zum Hier und Jetzt

Der überraschende Besuch der Bürgermeisterin (Noémie Lvosky) auf dem Fussballfeld erweist sich als Provokation einer Politik-Gegendemo zur Kunst-Demo der anarchistischen Formen der Jugend. Damit hat auch «La fille et son père» in Kurzform den Bezug zur Aktualität unserer Welt geschaffen, wofür andere Filme oft komplizierte Rahmenhandlungen oder Epiloge benötigen.

Erwan Le Duc bewegt sich auf schmalem, kompliziertem Grat zwischen Slapstick und Komödie und schafft es, den ganzen Film über auf diesem Grat zu tänzeln, klug zu unterhalten, ohne Klamauk oder pädagogischem Fingerzeig; formal innovativ und rhythmisiert wie ein Ballett überrascht der Film mit seiner Leichtigkeit. «La fille de son père» erweist sich für mich als kurzer Marathon einer langen Zärtlichkeit!

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Die Hauptprotagonisten Céleste Brunnquell und Nahuel Pérez Biscayart

 Aus einem Interview mit Erwan Le Duc

 Ich mache mir viele Notizen. Manchmal handelt es sich um Szenen, Situationen, Bilder, Themen. Im Laufe der Zeit sammle ich das und versuche, es miteinander zu vermischen. Ich stellte fest, dass eine Figur, die bereits in meinem ersten Film vorkam, wieder auftaucht: der alleinerziehende Vater, der seine Tochter im Teenageralter allein grosszieht. Sie wollte auf ein Internat gehen und fragte sich, wie sie ihn verlassen könnte, ohne ihn zu verlassen. Ich wollte dieses Thema weiterverfolgen, die bedingungslose Liebe zwischen einem Elternteil und einem Kind tiefgründig erforschen.

Ich wollte aus diesem Verlassenwerden nicht die Geschichte eines Zusammenbruchs machen. Es ist vielmehr die Erzählung eines Umbruchs. Es sind zwei glückliche Menschen. Sie sind durch das, was sie erlebt haben, nicht zerstört worden. Sie haben sich nie gegen diese abwesende Mutter aufgelehnt, sondern sich daneben erfunden. Vielleicht haben sie die Realität ein wenig verleugnet, und das ist es, was mit dem Wiederauftauchen der Mutter kommt. Das Wichtigste war, auf sentimentale Weise zu erzählen, wie es zwei Menschen gelingt, sich zu trennen, ohne alles zu zerstören.

Trailer

Regie: Erwan Le Duc, Produktion: 2023, Länge: 91 min, Verleih: Frenetic