Charlotte, eine von uns
Charlotte blickt in die andere Welt
Eine einfühlsame Annäherung
Als der Vater von Charlotte wegen eines Herzinfarkts ins Spital kommt, kehrt ihr Bruder Leo nach zehn Jahren ins Dorf zurück, wo er erfährt, dass seine Schwester wegwill. Er fordert sie auf, mit ihm in die Schweiz zu fahren. Damit lässt sie sich auf ein Abenteuer ein, denn sie hat noch nie eine Reise gemacht. Diese wird für sie ̶ und vielleicht auch uns ̶ eine Reise in die «terra incognito» des Seelenlebens.
Die Projektidee war einfach und herausfordernd: Charlotte mit ihrer psychischer Beeinträchtigung aus der Innen- und Aussenperspektive zeigen! Im Film erleben wir, wie die Protagonistin die Umwelt und wie die Umwelt die Protagonistin wahrnimmt.
Gang hinaus in Charlottes Welt
Die lange Reise zu ihr ̶ und zu uns
Die vierzigjährige Charlotte lebt mit ihrem Vater abgeschieden im Trentino. Sie kümmert sich um den Garten, spricht mit den Hühnern oder spaziert im Wald. Wenn sie Angst hat, erscheinen ihr Schatten, die für andere unsichtbar sind. Wenn ihr Vater mit ihr manchmal grob ist, weil er sie nicht versteht, verfällt sie in eine Schockstarre. Als der Vater nach einem Herzinfarkt ins Spital kommt, kehrt ihr jüngerer Bruder Leo nach zehn Jahren ins Dorf zurück. Er hatte damals den Vater niedergestochen, um die Mutter zu schützen, und war ausgezogen. Er erfährt, dass seine Schwester weg will und fordert sie auf, mit ihm in die Schweiz zu fahren. Damit beginnt für Charlotte das Abenteuer ihrer ersten Reise. Leo wohnt in einer Kleinstadt im Zürcher Mittelland. Dort entdeckt sie neue Orte und lernt neue Menschen kennen. Der Bruder bemüht sich, sie mit den schönen Seiten des Lebens vertraut zu machen, hat aber auch nur beschränkt Zugang.
Charlotte erlebt auch glückliche Momente; eines Tages findet sie ein Huhn und bringt es heim, bemalt die Wände und freundet sich mit Marcel an, dem Sohn von Leos Freundin. Als dieser eines Tages nach der Schule zu einem Freund geht, statt wie üblich den Nachmittag mit ihr zu verbringen, gerät sie in eine Krise und reagiert aggressiv. Das bringt bei Leo das Fass zum Überlaufen, denn Charlotte ist ausserstande, sich zu entschuldigen. Er fährt sie ins Trentino zurück. Als die Geschwister dort eintreffen, liegt der Vater tot auf dem Küchenboden. Für Leo ist es der Moment, das Haus zu verkaufen. Doch Charlotte will bleiben. Die Situation eskaliert. Der Film schildert die Ereignisse, die sich während Charlottes Reisen zwischen Italien und der Schweiz ereigneten ̶ gleichzeitig die inneren Reisen, welche die Protagonistin dabei durchlebt.
Am Ende gibt es keine «Verwandlung» der Protagonistin, doch sie befreit sich in kleinen Schritten von ihren Ängsten, schreitet voran auf ihrem Weg der Selbstfindung und Entdeckung der Welt. Es ist das Wertvollste, was einer psychisch beeinträchtigten Person passieren kann: ihre Ängste nach und nach zu überwinden und ihre Bedürfnisse auszudrücken. Mit diesem Bestreben ist Charlotte «eine von uns». Wir alle haben ähnliche Ängste und Bedürfnisse.
Von Kartoffeln beschützt
Anmerkungen von Rolando Colla
Charlottes Reise zeigt ihre Gefühle, die manchmal niederschmetternd, doch entscheidend für ihre Befreiung sind: Helle und dunkle Momente ziehen durch ihre Geschichte. Auch wenn wir Charlotte in der letzten Einstellung lachen sehen, ist ihr Weg nicht linear, ihre Reise führt durch den kontinuierlichen und schwankenden Übergang zwischen Schmerz und Freude. Die wiederkehrenden Momente der Dunkelheit sind geprägt von Angst und Lähmung, die unsere Protagonistin gegenüber unbekannten Situationen empfindet: im Wald, am Pool zum Beispiel. Dem gegenüber stehen Momente des Glücks, in denen wir Charlotte mit Hühnern plaudern oder einen Kieshügel hinunterrollen sehen.
Die Bilder des Films sollen behutsam und emotional aufgeladen sein und in bestimmten Momenten eine universelle, poetische Dimension haben. Ein Beispiel dafür ist das Bild der Einsamkeit, wenn Charlotte draussen auf dem Boden schläft, beschützt von einem Kreis mit Kartoffeln, die sie um sich gelegt hat. In solchen Bildern steckt ein Potenzial, Empathie mit Charlotte zu entwickeln. Es war mir wichtig, visuell und akustisch in ihre Wahrnehmung hineinzukommen.
Schizophrenie ist gesellschaftlich immer noch ein Tabu. Das liegt daran, dass ihre Verhaltensweisen oft unberechenbar sind, was es schwer macht, sie zu verstehen. Durch Charlottes Geschichte versuche ich, diesem Tabu und dem allgemeinen Unverständnis zu begegnen: Ich möchte, dass Charlotte dem Publikum ans Herz wächst und ein intuitives Verständnis für sie möglich wird, das grösser ist als jenes der Figuren um sie herum.
Einmal ganz oben stehen
Eine Schule des Lebens
Wein-Anfälle folgen Lach-Anfällen, Schuld-Ängste Verlust-Ängsten. Befriedigung und Freude findet Charlotte in der Natur, bei Tieren, Bereicherung beim Singen, Tanzen und Malen, und die fantasievollen modellierten Figuren verraten einen Anfang zu neuen Beziehungen.
Und dann folgt, etwa in der Mitte des Films, ihre Aussage, die wie ein Mantra über ihrem, und wohl auch unserem Leben schwebt: «Ich weiss nicht, wie das Leben geht. Ich muss es noch lernen. Ich weiss nicht, wie man es lernt.» Und immer wieder folgt im Film und wohl auch in unserem Leben, das beschönigende «Es kommt alles gut.»
Schau-Spiel wird Innen-Schau, Bilder werden Sinn-Bilder
Die Annäherung an die Schizophrenie, weniger im medizinischen, eher im existenziellen Sinn, gelingt im Film wohl vornehmlich aus zwei Gründen: dem Schau-Spiel von Linda Olsansky, das zur Innen-Schau der Krankheit wird, und den gefilmten Bildern von Rolando Colla, die zu Sinn-Bildern werden.
Colla hat sein Können schon oft bewiesen, so in «W. ̶ Was von der Lüge bleibt» oder «Summer Games» . In «Charlotte» brilliert er mit dem klugen Wechsel von Scharf zu Unscharf, von Nah zu Fern und damit vom Aussen zum Innen. Mit der Kamera begleiten wir Charlotte in einem phänomenologischen Prozess hin zum Unbekannten oder Wenigbekannten. Mit einem ähnlichen Ansatz bringt uns auch Linda Olsansky mit ihrem Spielen zum Unbekannten oder Wenigbekannten. Die Schweizerin, 1974 in Tschechien geboren, hat die Schauspielausbildung an der Ernst-Busch-Hochschule besucht, war Ensemblemitglied an der Schaubühne am Lehniner Platz, dann am Theater Basel und weiter Gast bei den Wiener Festwochen, bei drei Zürcher Bühnen und bei diversen Filmen. Ihr gelingt es überzeugend, das zwischen Normalität und Abnormalität Liegende sichtbar, hörbar und erfahrbar zu machen.
Weitere Informationen zum Film sind dem Interview mit dem Regisseur zu entnehmen, das im Schaffhauser Fernsehen am 16. Juni 2025 ausgestrahlt wurde.