Summer Games

Rolando Collas Spielfilm: ein Höhepunkt des aktuellen Schweizer Kinos

Hochsommer auf einem Campingplatz der Maremma, einer beliebten Strandregion der Toskana. Vincenzo und Adriana, ein Arbeiterpaar kurz vor der Trennung, versucht mit letzter, verzweifelter Anstrengung ihre von prekärer gegenseitiger Abhängigkeit geprägte Ehe zu retten. Ihr 12-jähriger Sohn Nic ist davon in Mitleidenschaft gezogen, macht mit seinen Ferienfreunden einige unübliche Rollenspiele und versucht so, die traumatisierenden Gewaltausbrüche seines Vaters zu verarbeiten. In der Kindergruppe ist er integriert, kann aber nur mit Mühe seine aufkommenden Gefühle für die gleichaltrige Marie aus Genf ausdrücken. Sie als Kind einer allein erziehenden Mutter wiederum leidet, weil sie vermutet, vom Vater verlassen worden zu sein.

Für die Eltern ändert sich in diesen Sommerferien wohl nichts Wesentliches, was schon viel heisst, denn sie werden ihre Spiele weiter spielen, bis einmal etwas passiert… Für Nic und Marie hingegen wird das Leben nach den Ferien nicht mehr sein wie zuvor, sie beginnen mit neuen Spielen, gibt es vielleicht sogar ein neues Leben…

Die Kinder der Eltern, die Eltern der Kinder

Im sommerlichen Licht der toskanischen See lässt der Film «Summer Games» des Schweizer Filmemachers Rolando Colla behutsam, doch ohne falsche Aussparungen Anteil nehmen am Schicksal von Familien am Rande des Kollapses und Kindern im Spannungsfeld von Abhängigkeit und Ablösung. Während die Jungen ihre ersten Schmetterlinge im Bauch spüren, zerfleischen sich die Alten routinemässig und versöhnen sich ebenso oder sie tauchen ab in ihre je privaten Einsamkeiten. Erfrischend, intensiv und von visueller Sinnlichkeit, aber gleichzeitig berührend und erschütternd kommt der Film daher; denn er ist unbestreitbar wahr, wir alle kennen Ähnliches in unserem alltäglichen Umfeld.

Wenn Nic in einem seiner Kinderspiele Marie gegenüber körperliche Unempfindlichkeit demonstriert, versucht er damit die Kränkungen durch seinen Vater zu verarbeiten. Ein Gleichnis für seine Art, sich in der Welt zu bewegen. 1981 hat die Psychologin Alice Miller dieses Verhalten gekränkter Jugendlicher in ihrem Buch «Du sollst nicht merken» eingehend analysiert. Die Gewaltsausbrüche des Vaters, vor allem seiner Frau gegenüber, übernimmt bis in jedes Detail der Sohn, indem er einen Hund erschlägt und am Schluss den Vater selbst im Sumpf untergehen lässt. Ein Verhalten, das zeigt, wie solche Verhaltensweisen stets weiter wirkt, vom Grossvater zum Vater und von diesem zum Sohn «vererbt» wird. Millers Theorie entsprechend zeigt die Geschichte auch, wie mit Schlagen nur Schlagen, niemals ein neues Verhalten gelernt wird. Die Gewalttätigkeit hat ihre Wurzeln in Demütiungen in der Kindheit, heisst eine ihrer Thesen. Und dass Adriana immer wieder zum brutalen Vincenzo zurückkehrt und ihn schliesslich aus dem Wasser rettet, illustriert die symbiotische Bindung des Opfers an den Täter, ein Verhalten, das in den Frauenhäusern täglich anzutreffen ist. Ein klein wenig Hoffnung in diesem elterlichen Elend geht vom ständigen Auf-dem-Weg-Sein der Jugendlichen aus. Sie sind auf dem Velo, auf dem Boot, zu Fuss und im Wasser und suchen: suchen etwas Neues, ein anderes Leben als das, was sie bisher hatten.

«Leben heisst glücklich sein»

Doch der Film erschöpft sich keineswegs in psychologischen Beobachtungen, obwohl solche, dezent eingebettet, vieles über das Zusammenleben der Protagonisten aussagen. Er relativiert oder widerlegt voreilige Festlegungen. So ist Vincenzo nicht einfach der Brutale, Adriana das Opfer. Beide sind Täter und Opfer zugleich, was auch für die Zukunft der Kinder und die Vergangenheit der Eltern gilt. In diesem Sowohl-als-auch weitet sich die Familiengeschichte zur Menschheitsgeschichte, zu einem schmerzhaften Versuch, glücklich zu werden. In dieser «Conditio humana» gibt es kein abstraktes «Gut» und «Böse», sondern vermischt sich das eine mit dem andern, unerklärlich vielleicht, schicksalhaft und geheimnisvoll.

Die Fahrt, in welcher Adriana vom Zeltnachbarn in eine benachbarte Ausgrabungshöhle gefahren wird, ist wohl eine Schlüsselszene: «Für die Etrusker heisst Leben glücklich sein», kommentiert der Archäologiestudent die Fresken beim Eingang der Fundstätte. Um dieses «Leben heisst glücklich sein» kreist der ganze Film. Entweder leben die Menschen noch nicht oder nicht mehr. Oder sind sie noch nicht oder nicht mehr glücklich. Das macht traurig: dieses Leiden am Leben, das nicht gelingt – oder nur in ganz seltenen Augenblicken.

Die adäquate Form für die berührende Handlung

Dieses Sowohl-als-auch, dieses Noch-nicht und Nicht-mehr manifestiert sich nicht bloss im Inhalt, sondern auch in der Form. Der Film ist dramatisch, ernst und traurig und gleichzeitig zauberhaft, ausgelassen und heiter. Dies kommt in den unverbrauchten, poetischen Bildern von Lorenz Merz, der variationsreichen Musik von Bernd Schurer und der rhythmisierenden Montage von Rolando Colla und Didier Ranz zum Tragen. Aber auch aufgezeigt an Feinheiten wie der innen und aussen über die Zeltplache krabbelnden Insekten oder in kurzen Nebenhandlungen. In seiner ambivalenten Form berührt der Film. Kaum jemand kann sich der Gewalt und Faszination dieser Sommerspiele entziehen. Denn immer wieder erleben wir uns selbst als Teil dieser tragisch-komischen Welt und spielen da und dort unsere Rolle. Indem der Film dieses Sowohl-als-auch durchspielt, dürften wir – so hofft auch der Autor – für das gleiche Sowohl-als-auch im täglichen Leben sensibilisiert werden.

Ronaldo Collas Wünsche

«Ich wünsche mir zutiefst, dass dieser Film uns zu verstehen hilft, wie wir miteinander kommunizieren können, und wie wir alle trotz Gewalt, trotz Gefühlen von Frustration und Einsamkeit etwas miteinander zu teilen haben. Das gilt für Erwachsene ebenso wie für Kinder in der Ablösungsphase, die in die Probleme ihrer Eltern involviert werden, die aber auch ihre eigene Sinnlichkeit entdecken. Ich hoffe, dass dieser Film uns öffnet für die Kinder von heute und für die Kinder, die wir selbst immer noch sind.» Diese Aussage von Rolando Colla bestätigt, dass er mit dem Film etwas bewirken, nicht bloss unterhalten will. Auch wenn man im Film diese Absicht spürt, ist man nie verstimmt. Das meint wohl auch Fredi Murer, der Altmeister des neuen Schweizer Films, wenn er sagt: «Wäre ich in Venedig gewesen, hätte die 6-minüge Standing Ovation mindestens 7 Minuten gedauert. Ich liebe diesen Film.»

Trailer zum Film