Hôtel Silence

Eine Ode an die Resilienz des Menschen. Die schweizerisch-kanadische Regisseurin Léa Pool hat mit «Hôtel Silence» ein wunderbares Melodrama geschaffen, in dem der Protagonist seine Heimat verlässt, mit der Absicht, nicht mehr zurückzukehren, dann aber, in einem Kriegsland angekommen, wieder neuen Sinn für sein Leben findet. Ein berührendes, allgemeingültiges Gleichnis über die Hoffnung nach der Verzweiflung.
Hôtel Silence

 

Jean (ein grossartiger Sébastien Richard), Mitte fünfzig, ist am seelischen Tiefpunkt angelangt und fasst den Plan, eine Reise ohne Rückfahrschein in ein vom Krieg verwüstetes europäisches Land zu machen, wo ihn niemand kennt und vom Vorhaben abbringt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Beim Abschied von der Mutter (Louise Turcot) erklärt diese ihm, dass es, nur schon seit er lebe, mehr als 500 Kriege gegeben habe. Im Kriegsland angekommen, quartiert er sich in einem maroden Hotel ein und übernimmt, darum gebeten, kleinere Reparaturen. Der jungen Hotelmitbesitzerin Ana (Lorena Handschin) mit ihrem kriegstraumatisierten Sohn und ihrem Cousin Zoran (Jules Porier) fällt Jeans handwerkliches Geschick auf. Sie stellen ihn kurzerhand ein, um beim Wiederaufbau zu helfen. Plötzlich hat es Jean nicht mehr so eilig mit dem Sterben. Angesichts der Widerstandskraft und der Hoffnung dieser kriegsversehrten Menschen schöpft auch er neuen Mut.

 

Indem der Film von Léa Pool Parallele zwischen den Narben eines Mannes und denen eines vom Krieg traumatisierten Volkes zieht, hebt er nicht die Gewalt und Zerstörung hervor, sondern die Regeneration und Solidarität und feiert letztlich das Leben. In seinem Zimmer nutzt Jean das mitgebrachte Werkzeug erstmals, um den Schrank zu flicken und die rostgefüllten Wasserleitungen zu reinigen. Während Ana versucht, ihn definitiv als Helfer für die anstehenden Reparaturen im Hotel zu gewinnen, klaut ihr stummer Junge Adam in seinem Engelskostüm den Haken aus Jeans Tasche, um sich als Pirat zu kostümieren. Allmählich führen sich der lebensmüde Jean und die kriegsversehrten Gastgeber gegenseitig ins Leben zurück.

HotelSilence Filmstill8 

Jean vor Ort

 

Die Filme von Léa Pool, die 1950 in Genf geboren wurde, sind meist bevölkert von eigenwilligen, schönen, starken, verwundeten, verträumten und realistischen Frauen. Für «Hôtel Silence» hat sie auf den Roman einer Frau zurückgegriffen, auf «Ör» (deutsch: Narben) der Isländerin Auður Ava Ólafsdóttir. Offensichtlich, weil der Roman viele Elemente von Pools eigener Familiengeschichte widerspiegelt: «In Hôtel Silence findet man auch die Welt meiner Filme wieder: Exil, Kindheit, Frauen, deren Leiden und Stärken, das prekäre Gleichgewicht, in dem sich die Figuren befinden, weit weg von ihren Bezugspunkten, die Notwendigkeit, die sie haben, sich zu bewegen und zu verwandeln. Der Übergang vom Einsamen zum Solidarischen, vom Individuellen zum Kollektiven spricht mich als Filmemacherin an und scheint mir heute mehr denn je aktuell. Während ein Krieg den nächsten jagt und Leid und Zerstörung verursacht, ist «Hôtel Silence» eine universelle Fabel über Mut, Brüderlichkeit und Resilienz. Und so gelingt es, über Jeans Schicksal, unsere gemeinsame Menschlichkeit aufzuzeigen.»

 HotelSilence Filmstill6

mit Ana

 

Jean wird vom ersten Bild an fassbar, auch wenn der Grund für seine Lebenstrauer erst gegen Ende des Filmes aufscheint. In wenigen Interaktionen mit seinem Nachbarn in Kanada, beim abrupten Abgang mitten aus einer Chorprobe und im knappen Gespräch mit seiner beunruhigten Tochter Rose bekommen wir eine Vorstellung von der Person. Ähnlich bringt Pool uns auch Ana und Zoran im nie genauer verorteten bürgerkriegsversehrten Land nahe. Aus den Erzählungen und Hinweisen wird klar, dass die Traumata dieser Menschen aus den Balkankriegen sind. Bevor Ana ihm die Frauen vorstellt, mit denen sie nach Ende der Renovation in einem gemeinsamen Haus leben wird, warnt sie ihn, sie nicht nach den Vätern der Kinder und auch nicht nach dem Verbleib ihrer Männer zu fragen. Und als Jean Anas Annäherung mit dem Hinweis abblockt, sie könnte seine Tochter sein, kommt es zu einem wegweisenden Dialog. Ein paar kurze Auftritten der Kriegsreporterin Kristina (Irène Jacob) und ihre Begegnungen mit Jean im Hotel bringen neue Sichtweisen des Leidens im Krieg und des Leidens im Privatleben zutage.

 

HotelSilence Filmstill4

mit Kristina

 

Das architektonisch einem Schiff nachempfundene Hotel hat die Regisseurin in Frankreich gefunden. Das Gebäude wird im Verlauf des Films zu einem fast gleichberechtigten Darsteller. Und dort kann Léa Pool auch kräftig und mehrdeutig mit Symbolen arbeiten: Das Hotel hat nicht nur Kellerräume, in denen Dinge aus der Vorkriegszeit gelagert sind, inklusive Postkarten, sondern auch ein prächtiges Kino, das allerdings zunächst mit Trümmern versperrt ist. Gegen Ende schaut Zoran mit Adam im neuen Kino den Film «The General» von Buster Keaton. Eine Szene, die auch als Hinweis auf die heilende Kraft des Kinos gelesen werden kann.

 

Aus dem verschneiten Québec reiste Jean einst ab, nach Mitteleuropa, in ein namenloses Land am Meer, unmittelbar nach dem Ende eines brutalen Krieges. In einer von Landminen verseuchten Umgebung findet er Zuflucht in einem halb zerstörten, einst prächtigen Hotel, das von jungen und alten Kriegsüberlebenden wieder aufgebaut wird. Dort ist er als Gast willkommen. Und das Dorf kann künftig wieder ein Ziel für Fremde, für Touristen werden.

HotelSilence Filmstill3 

Léa Pool gelingt es, sich in ihren Filmen auf den zwischenmenschlichen Raum zu konzentrieren. In «Hôtel Silence» steht die Anteilnahme am Leiden des Gegenübers, ohne die jeweiligen Lebenslagen zu vergleichen oder zu bewerten, im Mittelpunkt. Die Kamera von Denis Jutzeler fängt die Nachkriegssituation präzis und doch zurückhaltend ein und schafft eine Stimmung, die einen von Szene zu Szene mehr in ihren Bann zieht. Weil es hier kein Bild und keinen Ton zu viel oder zu wenig gibt, und weil die stimmigen und vieldeutigen Tableaus akustisch und visuell mit Bravour gestaltet sind. Einige auf der Website der-andere-film.ch besprochenen Filme von Léa Pool mögen auf die Bedeutung der in der Schweiz viel zu wenig bekannten und ausgezeichneten Cineastin verweisen: «Et au pire, on se mariera», «La Passion d’Augustine», «Emporte-moi», «Double peine», «La dernière fuge».

 

Vielleicht meldet sich während des Filmes irgendwann oder irgendwo leise eine der berühmten Aussagen von Albert Camus: «Solitaire et Solidaire» aus der Novelle «Jonas» oder «Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord» aus dem «Mythos des Sisyphos». Ebenso wichtig dürfte eine Bemerkung der Regisseurin sein: «Mich interessiert der Moment am Abgrund», womit der Film, zusammen mit den formalen Meriten, nach meiner Meinung, seine einmalige Grösse als modernes Welttheater bekommt. Und wer noch mehr von der Regisseurin wissen will, lese «Mot de la réalisatrice» im Anhang.

Léa Pool: Mot de la réalisatrice

Regie: Léa Pool, Produktion: 2024, Länge: 101 min, Verleih: Filmcoopi