Double peine

Geforderte Mutterliebe: Léa Pool berichtet in ihrem Dokumentarfilm «Double peine» über Mütter in Gefängnissen und ihre Kinder: eine Anklage an die Justiz und ein Hymnus auf die Mutterschaft.
Double peine

Frauen im Gefängnis bei der Graduation Ceremony

Zwei Drittel aller Frauen, die weltweit in Gefängnissen sitzen, sind Mütter, fast drei Viertel von ihnen alleinerziehend. Weder ihre Bedürfnisse noch diejenigen ihrer Kinder werden vom Justizsystem berücksichtigt. Was passiert mit den Buben und Mädchen, während ihre Mütter in Haft sind? Wo und wie leben sie? Was beschäftigt sie? Léa Pool hat den Alltag einiger dieser Kinder begleitet – in Nepal, Québec, Bolivien und den USA. Die schweizerisch-kanadische Regisseurin und Drehbuchautorin schildert zudem, wie unabhängige Organisationen diesen Kindern und Jugendlichen ein Zuhause bieten und ihnen Kontakte zu ihren Müttern ermöglichen. Ihr Film «Double peine» gibt den Müttern, ihren Kindern und Sozialarbeitenden das Wort. Susie, eine Mutter im Gefängnis, bringt es auf den Punkt: «Frag einen Mann, was für ihn die Hauptsache ist, wenn er ins Gefängnis kommt. Er wird sagen, hinauszukommen. Frag eine Frau im Gefängnis. Sie spricht nicht davon, aus dem Gefängnis zu kommen, sondern möchte ihre Kinder sehen.»

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Kinder und ihre Mütter im Gefängnis

Die resolute und gleichwohl herzliche Indira ist Heimleiterin der NGO Prisoners’ Assistance Nepal, welche im Land knapp 500 Kinder inhaftierter Eltern betreut. Mit einer kleinen Kindergruppe besucht sie das Frauengefängnis von Kathmandu. Dort werden Fortschritte in der Schule besprochen und Geschenke ausgetauscht. Gelächter und Tränen wechseln sich ab, wo Mütter und Kinder sich zu begegnen versuchen.

Ambivalent sind auch die Reaktionen der Schwestern Karolyne-Joanny (9) und Audrey-Kym (8) in Québec auf die ihre drogenabhängige Mutter. Die Ältere schimpft bei jeder Gelegenheit mit der Mutter und träumt doch davon, was sie bei deren Entlassung im nächsten Sommer unternehmen möchte. Die beiden leben mit ihrem Vater und dessen neuer Partnerin in einer sieben-köpfigen Patchwork-Familie.

Auch in Bolivien werden die familiären Beziehungen so weit wie möglich gepflegt. Etwa 2100 Kinder und Jugendliche leben mit ihren Eltern im Gefängnis. Isaac (8), einer davon, besucht tagsüber draussen die Schule und einen speziellen Hort und kehrt am Abend zu seiner Mutter ins Gefängnis zurück. Für ihn ist das Alltag, er macht einen zufriedenen Eindruck. Solange Kinder nicht von ihren Müttern getrennt sind, finde keine Traumatisierung statt, meint die Hortleiterin.

In den USA hat Andrea (15) Mühe, mit der langen Haftstrafe ihrer Mutter zurechtzukommen. Die Osborne Association in New York bietet Kindern von Inhaftierten mit Video Begegnungen zwischen zu Hause und dem Gefängnis. Der krönende Abschluss einer Elternausbildung, welche die Häftlinge einer Stelle für Wiedereingliederung absolviert haben, ist die informelle Graduation Ceremony, bei der die Frauen über ihren Häftlingsuniformen violette Roben und Doktorhüte tragen.

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Frauen im Gefängnis bei der Graduation Ceremony

Anmerkungen der Regisseurin

«Wir haben diesen Kindern, den unschuldigen und zu oft vergessenen Opfern des Justizsystems, eine Stimme gegeben. Werden ihre Rechte respektiert? Unsichtbar und von der Gesellschaft stigmatisiert, sind diese jungen Menschen schwer zu finden. Doch mit Hilfe bemerkenswerter Frauen und NGOs, für welche diese arbeiten, haben wir einige dieser Kinder gefunden und ihnen eine Stimme gegeben, während wir sie an unterschiedlichen Orten dieser Welt im Alltag begleitet haben. Dieser Film will in seiner Fragestellung und seinen Erwägungen einerseits politisch und kritisch, anderseits aber auch persönlich und intim sein.»

Von der Gabe und Aufgabe der Mutterschaft

In regelmässigen Abständen blendet Léa Pool acht Forderungen in ihre ausführlichen Erzählungen ein. So zum Beispiel: «Ich habe ein Recht auf Unterstützung während der Haftzeit meiner Eltern.» oder «Ich habe das Recht mit meinen Eltern zu reden, sie zu sehen und sie zu berühren.» So wird der Film zu einem Manifest für die Rechte der Kindern von Müttern, einer Menschengruppe am Rande der Gesellschaft.

«Double peine» ist nach meiner Einschätzung aber mehr, stammt er doch von Léa Pool, einer sensiblen und engagierten Künstlerin, von der in neuerer Zeit bei uns Filme wie 2014 «La passion d'Augustine», 2010 «La dernière fuge», 2008 «Maman est chez le coiffeur» und 1999 «Emporte-moi» zu sehen waren. Als Filmemacherin der 68er-Generation und als Engagierte der feministischen Bewegung kann sie «angesichts der Diskriminierung durch das juristische System gegenüber Frauen nur rebellieren.

Das Gefangen-, Weggesperrt- und Überwacht-Sein von Menschen hat am radikalsten wohl der französische Philosoph Michel Foucault, explizit 1975 in «Surveiller et punir», analysiert. Seine Thesen muss Léa Pool nicht wiederholen. Sie beschreibt und analysiert in «Double peine» diesen Zustand mit Geschichten und Bildern, welche die Worte der Wissenschaftler vertiefen und transzendieren: in unsere Herzen, nicht nur unsere Köpfe, bringen. Sie thematisiert eindringlich und berührend die Mutterschaft, diese herausfordernde Form der menschlichen Existenz: Mit Bildern der Schönheit und Grösse, die Kraft geben, und mit Bildern der Trauer und Gewalt, die niederdrücken.

Regie: Léa Pool, Produktion: 2016, Länge: 103 min, Verleih: filmcoopi