Captives

Frauenliebe, die Männerhass besiegt: Paris, 1894. Auf der Suche nach ihrer Mutter lässt sich Fanni freiwillig in die psychiatrische Klinik «Hôpital de la Salpêtrière» einliefern. Hier erlebt sie Gewalt und Hass. Arnaud des Pallières hat mit «Captives» einen bewegenden, grossartigen Film geschaffen über die Tragik der Frauen damals, was aber auch noch für heute zutrifft. Ab 8. August im Kino
Captives

Fanni Devander

Unter den hundert Frauen, die mit der Diagnose «Geisteskrankheit» eingesperrt sind, erniedrigt, gequält und missbraucht werden, entwickeln sich gelegentlich sogar Freundschaften. Der Alltag im Spital wird von den hektischen Vorbereitungen für den jährlichen grossen «Bal des folles» bestimmt, an dem sich die Pariser Bourgeoisie vergnügt. Für Fanni vielleicht die Chance zur Flucht.

Der sinnlich und inhaltlich reiche Film versetzt uns, auf einer ersten Ebene, in eine Zeit, in der die weibliche Freiheit in ein enges Korsett gezwängt wurde, in dem Unwissen, Bigotterie, Aberglaube und Frauenfeindlichkeit herrschten. Arnaud des Pallières, der Regisseur, hat mit «Captives» darüber ein Zeitdokument geschaffen, angesiedelt zwischen realistischem Drama und grausamem Märchen – gleichzeitig, auf einer zweiten Ebene, ein zeitübergreifendes Welttheater über das generelle Unvermögen des glücklichen Zusammenlebens von Mann und Frau. – Die nachfolgenden, frei verwendeten Zitate sind Ausschnitte aus «Interviews mit Arnaud des Pallières und Mélanie Thierry», integral im Anhang:

Captives.6
Bobotte, die Chefin

Hinunter in die Vorhölle



Ich wollte, dass die Zuschauenden die «Salpêtrière» durch die Augen von Fanni kennenlernen. Wie sie sollen wir nach und nach den Ort, die Institution, die Internierten und Pflegerinnen sowie die komplexen Beziehungen  der Frauen untereinander entdecken. Das Spital war eine Stadt in der Stadt, eine Gesellschaft, ausschliesslich von Frauen bewohnt. Nach und nach entdecken Fanni und wir die die Armut, Brutalität, Gewalt und die Herrschaft des Irrationalen und der Willkür. Wir haben uns bewusst gegen Charcots (französischer Neurologe) Darstellung der «weiblichen Hysterie» entschieden, die wieder in Mode gekommen war und von Didi-Huberman in seiner «Invention de l’hystérie» klar dekonstruiert wurde. Das Quartier der «Hysterikerinnen», die oft jung und hübsch waren, bildete das Schaufenster der «Salpêtrière»: den Baum, der den Wald verdeckt.

Im Wald war das Volk der armen, alten, vergewaltigten, unterdrückten, unangepassten, alkohol- und drogenabhängigen, kriminellen, sich prostituierenden und manchmal rebellischen Frauen, die die Männergesellschaft nicht wollte und in das einzige, meist überfüllte Frauengefängnis «Saint-Lazare» sperrten und dann in die «Salpêtrière» einwiesen, ohne Hoffnung auf «Heilung» oder Befreiung. Die meisten dieser Frauen waren nicht «verrückt» im heutigen Sinne. Manchmal war in einem abgelegenen Pavillon eine Bürgerliche untergebracht, die ein Arzt auf Wunsch einer Familie zwangseinweisen liess, wie Hersilie Rouÿ im Film, die das durch ihre «Memoiren einer Geisteskranken» öffentlich macht.

Captives.3
Tochter Fanny und Mutter Camomille

Zwei Castings vom Feinsten

Arnaud des Pallières vereint in seinem achten Spielfilm mit Mélanie Thierry als Fanni, Carole Bouquet als Hersilie Rouÿ, Josiane Balasko als Bobotte, Marina Foïs als La Douane, Yolande Moreau als Mutter Camomille einige der besten französischen Schauspielerinnen unterschiedlicher Generationen. Schwieriger als das Engagieren der Stars erwies sich wohl das Casting der «Geisteskranken». Marjolaine Grandjean hat dies zusammen mit dem Regisseur gemacht, intim und diskret zugleich. Lob verdienen das Szenenbild von Laurent Baude und das Kostümbild von Nina Avramovic sowie David Chizallet, der sich mit der Kamera frei bewegte und immer wieder Unerwartetes in ungewöhnlich strahlenden Farben einfangen konnte.

Zu einem schönen Teil ist es das Spiel der Schauspielerinnen, die ein opulentes, wildes Universum auf die Leinwand  zauberten, dieses obsessiv mit Leben erfüllten und die Handlung vorantrieben. Der Regisseur wendet sich mit diesem Film von einem männlichen, politischen zu einem femininen, feministischen Stil, vielleicht auch das ein Grund für die Qualität des Films.

Captives.4
Jeanne, die Bewacherin von Fanni

Zärtlichkeit besiegt die Gewalt

«Captives» ist ein historisches Dokument und gleichzeitig ein aktuelles Narrativ. Die Kamera, die meist auf Fanni gerichtet ist, mit der wir die Welt der damaligen, aber auch der heutigen Gefangenen in aller Welt kennenlernen. Der Regisseur stürzt uns hinein in einen von Männern geschaffenen Frauenchor im Paris des späten 19. Jahrhunderts, als Frauen von Männern wegen «Hysterie» eingesperrt wurden, von der angenommen wurde, dass sie mit ihrem Geschlecht in Verbindung steht. Das Krankenhaus ist den Frauen vorbehalten: den Hysterikerinnen, Idioten, Prostituierten und allen, die mit solchen «weiblichen Neurosen» in Verbindung gebracht werden konnten. Die sich entwickelnde Geschichte von Fanni und ihrer Mutter bildet den Motor für die Enthüllung dieser verborgenen Welt, historisch und ästhetisch aufgearbeitet, an der Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn, von wo uns die schönen himmelblauen Augen Fannis immer wieder zurückholen.

Captives.5
Emilie, die Musikerin und Historikerin

«Plaisir d’amour»


Fanni sah die Hölle und erfuhr sie am eigenen Leib. Sie wurde dorthin gebracht, wohin Frauen gegen ihren Willen oft von den Männern ihrer Familie, ihrem Vater, Ehemann oder Bruder gezwungen wurden, den Anordnungen der männlichen Ärzte zu gehorchen. Doch der Film endet – und das ist in meinen Augen entscheidend und für mich beglückend – nicht in der Vorhölle, sondern im Paradies.

Auf der Suche nach den Gründen meiner Begeisterung für «Captives» bin ich zufällig auf einen Essay mit dem Titel «Der künstlerische Film: Bild und Bildner unserer Zeit» gestossen, den ich selbst 1968 geschrieben hatte und der kürzlich von einem Verlag ins Netz gestellt wurde. Daraus ein paar vielleicht etwas kaleidoskopische, enigmatische Sätze, die im Weitersinnieren vielleicht weiterhelfen:

«Der Film kennt kein reine Äusserliches und keine leere Dekorativität, weil im Film alles Innere an einem Äusseren zu erkennen ist, darum ist auch an allem Äusseren ein Inneres zu erkennen.»
«Das Kunstwerk symbolisiert die endzeitliche Neuschöpfung der Welt.»
«Der vergegenwärtigende Jetzt-Moment, in dem er sich auf der Leinwand ereignen, ist gleichzeitig hinabsinkende Vergangenheit und aufsteigende Zukunft.»
«Die Welt wird Fantasie, und die Fantasie wird Welt.»

Und der wunderbare Film «Captives» endet mit «Plaisir d’amour» von Jean Paul Egide Martini aus dem Jahre 1784, was wohl alles sagt, was noch zu sagen ist...

Interview mit Arnaud des Pallières und Mélanie Thierry
Regie: Arnaud des Pallières, Produktion: 2023, Länge: 119 min, Verleih: Cineworx