On Falling

Sozialkritisch und menschenfreundlich: Die portugiesische Emigrantin Aurora arbeitet im schottischen Edinburgh als Lageristin im Verteilzentrum eines Online-Giganten. Gefangen zwischen Monotonie im Warenhaus und Einsamkeit im Zimmer droht sie in Isolation zu verkümmern, weshalb sie versucht, in der von der Big-Economy gesteuerten Welt gelegentlich menschliche Kontakte zu knüpfen. Mit ihrem Spielfilm «On Falling» schuf die Portugiesin Laura Carreira, in der Gefolgschaft von Ken Loach, ein Meisterwerk. Ab 12. Juni im Kino
On Falling

 

«Irgendwann wurde mir klar, dass ich nicht nur einen Film über einen schlechten Job mit unfairer Bezahlung machen wollte, oder wie man von einem gesichtslosen Algorithmus über einen Scanner gemanagt wird, oder das Unternehmen, für das man arbeitet, Milliarden verdient und kaum Steuern zahlt. Das Grundproblem ist, dass alle Arbeit im Kapitalismus so gestaltet ist und dass sie bestimmt, wie wir leben und uns selbst wertschätzen», schreibt die Regisseurin Laura Carreira zu ihrem Film.

 

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Vom kurzen Dokumentarfilm zum langen Spielfilm

 

«On Falling» ist das Langspielfilmdebüt der Drehbuchautorin und Regisseurin Laura Carreira, die in Portugal geboren wurde, heute in Edinburgh lebt und Filmregie studiert hat. Schon in ihren frühen, preisgekrönten Kurzfilmen «Red Hill» und «The Shift» hat sie sich mit der Arbeitswelt auseinandergesetzt. «Bei den Kurzfilmen kamen mir viele Ideen, die ich damals nicht umsetzen konnte. Im erstem habe ich unsere Beziehung zur Arbeit, im zweiten die finanzielle Unsicherheit der Big Economy untersucht, mit «On Falling» führe ich diese Themen weiter und gehe genauer auf die existenziellen Auswirkungen auf die Einzelnen ein. Der Film enthält eine Ansammlung jener nicht realisierten Ideen: Was macht die Arbeit mit uns? Doch das universelle Thema der Arbeit wird im Kino nur selten behandelt. Unser Selbstverständnis ist so stark damit verflochten, dass es kaum hinterfragt wird.»

 

Als portugiesische Einwanderin in Schottland versteht Carreira die Arbeitswelt aus eigener Erfahrung: «Ich versuche, Filme zu machen, die das widerspiegeln.» Aurora, eine eingewanderte Arbeiterin, die in einem grossen Vertriebszentrum mit einem Null-Stunden-Vertrag arbeitet, spricht viele der Themen an, die auch Ken Load, Carreiras künstlerisches und politisches Vorbild, in seinen Filmen behandelt hatte. «On Falling» wurde während drei Jahren entwickelt, die Dreharbeiten dauerten fünf Wochen. «Und es war ein bereichernder Prozess, die richtigen Akteure zu finden und dann zu sehen, wie diese die von mir beschriebenen Figuren zum Leben erwecken.»

 

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Für die Ideen die Form suchen

 

Die Regisseurin und ihr Team waren von grossen Ideen gepackt. Es galt, für das, was sie motivierte, die passende Form zu finden: die Personen und Handlungen, Dialoge und Räume, Szenen und Stimmungen, die Hintergründe und schliesslich die Montage. Wie die Entstehung des Films ablief, soll hier, unterstützt von Aussagen der Crew, referiert werden. ̶ Der fertige Film, wie wir ihn im Kino sehen, wird erst am Schluss kommentiert.

 

Joana Santos, die Theater- und Filmerfahrung hat, spielt Aurora: «Diese ist nicht sehr kontaktfreudig, ihre Arbeit als Pickerin macht einsam und ist anstrengend, es bleibt ihr wenig Zeit X, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Ihr fällt es schwer, Freunde zu finden, sie lebt trotz ihrer Freundlichkeit und Suche nach Glück in einer abgeschlossenen Welt.» Die Schauspielerin tauchte tief ein in die schottische Kultur, um Auroras Umgebung zu verstehen: «Ich wollte mehr über die Welt meiner Figur erfahren, bin für zwei Monate nach Glasgow gezogen.» Bei jeder Szene versuchte die Regisseurin, ihre Absichten vor dem Dreh der Darstellerin zu kommunizieren, damit auch diese ihren Anteil beitragen konnte; denn auch die Drehbuchautorin wusste nicht alles über die Figuren, die sie erschaffen hatte.

 

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Vor und hinter der Kamera

 

Laura kämpfte dafür, mit allen der über 50 Darsteller:innen Probenzeit zu bekommen. «Dies war wichtig, um den professionellen und vor allem den nicht-professionellen Raum zu geben. Wir improvisierten und probierten verschiedene Varianten aus, kehrten dann zum Drehbuch zurück und änderten es, wenn nötig. Für Laien war dies besonders hilfreich, weil ihr Spiel realistischer wird, wenn sie eigene Lebenserfahrungen in die Szenen einbringen können.» So besuchten die Protagonistin und die Regisseurin ein Warenlager, haben unzählige Picker-Videos auf YouTube angeschaut und wurden zu richtigen Pickern ausgebildet.» So hatte Joana bereits eine Vorstellung, was Laura von ihr erwartete, und es musste nur noch die Choreografie der Szenen erarbeitet werden.

 

Kameramann war, wie bereits bei den Kurzfilmen, Karl Kürten. «Während der Dreharbeiten haben Laura und ich eine gemeinsame Filmsprache erarbeitet, in der wir uns stilistisch sicher fühlten. Das visuelle Ziel des Films war, Authentizität mit Ästhetik zu verbinden. Mit der Handkamera folgten wir Aurora, als würden wir ihr über die Schulter schauen. Aus ihrer Perspektive wollten wir ihre Reise im Film visuell einfangen und mit den Bewegungen ihren Zustand wiedergeben. Wir hatten uns auf eine Mise-en-scène konzentriert, die zum narrativen Ansatz passt, der mit den Schauspielern vor Ort entwickelt wurde. Das bedeutete, dass wir viel Zeit für die Vorbereitung und das Proben der langen Einstellungen brauchten.»

 

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Kapitalismuskritisch und menschenfreundlich

 

Wie Ken Loach, 1936 geboren, während Jahrzehnten das sozialkritische und menschenfreundliche britische Kino geprägt hat, so führt es Laura Carreira, 1994 geboren, der Tradition verpflichtet, mit neuem Elan, weiter. Hier einige Filme von Loach: «The Old Oak», «Sorry We Missed You», «Jimmy’s Hall», «I, Daniel Blake» und «It’s Free World».

 

Kapitalismuskritisch, so meine ich, ist «On Falling» auf eine subtile und dennoch radikale Art. Je länger wir der Pickerin Aurora im Verteilzentrum folgen, desto tiefer tauchen wir ein in die Herrschaft des real existierenden Kapitalismus. Spannend wird es, wenn man genau hinschaut, wie die im Grosskonzern geleistete Arbeit das Sein und das Bewusstsein der Menschen prägt. Es ist die grosse Leistung der Regisseurin und ihrer Crew, die letzten Winkel dieser meist als Blackbox wahrgenommenen Welt ausgeleuchtet zu haben. Menschenfreundlich beschreibt Laura Carreira die Menschen der ganzen Geschichte, so meine Einschätzung. Ihre Schilderungen leben von dem, was eigentlich jeden Künstler und jede Künstlerin bewegen sollte: die Liebe zum Menschen. Dies hilft den Zuschauenden, ganz nahe an diese Menschen heranzukommen.

 

Und die scheinbaren Gegensätze in der Intention des Films, kapitalismuskritisch und menschenfreundlich, treffen uns zuinnerst: im Herzen und im Kopf, im Erleben und in der Empathie, im Lesen und Verstehen der Bilder und Töne. Siehe dazu die Kolumne «Lob der Arbeit» von Andreas Iten im Seniorweb

Regie: Laura Carreira, Produktion: 2024, Länge: 104 min, Verleih: Frenetic