The Village Next to Paradise
Mamargade und Cigaal
Der verwitwete Mamargade (Ahmed Ali Farah) lebt zufrieden mit seinem Sohn an der somalischen Küste. Die frisch geschiedene Araweelo (Anab Ahmed Ibrahim), die bei ihnen wohnt, träumt von einer eigenen Schneiderei. Als die Schule im Dorf schliesst, muss die Patchworkfamilie erfinderisch werden, um dem aufgeweckten Cigaal (Ahmed Mohamud Saleban) eine Zukunft zu bieten. Kein leichtes Unterfangen im instabilen Somalia, über das schon in der ersten Sequenz des Films ein britischer TV-Sender von der Tötung eines Al-Shabaab-Terroristen berichtet. Bei den Innenansichten der Familie sind die Aussenansicht des Landes, bei den Aussenansichten des Land die Innenansichten der Familie immer mitgemeint.
Als Mamargade in sein bescheidenes Heim kommt, wartet der kleine Cigaal schon auf ihn. Wieder mal ist in der Schule kein Lehrer aufgetaucht, also ist der Junge daheim und zeichnet für sich. Bald schon tritt Araweelo ein und schleppt ihre Nähmaschine mit sich, mit der sie tagsüber, wenn möglich, Kundschaft am Strassenrand bedient. Nun scheint die Familie komplett. «The Village Next to Paradise» rückt den Alltag eines kleinen Haushalts ins Zentrum und blendet in ein Dorf namens Paradies ein, wo der Wind durch die Strassen und Häuser peitscht. Als Araweelo mit ihrem Ehemann für den Vollzug der Scheidung vor dem Richter steht, wird klar: Sie ist nicht Cigaals Mutter, sondern seine Tante, die seit der Trennung beim Bruder wohnt. Die kleine Familie kommt mehr schlecht als recht über die Runden. Mamargade hält sich mit Gelegenheitsjobs als Totengräber und Fahrer über Wasser und schmuggeln auch mal verbotene Ware. Und Araweelo verdient mit dem Verkauf von Kathblättern, einem gesellschaftlich anerkannten Genuss- respektive Rauschmittel mehr als mit ihrem Nähen. Doch in der Zukunft ist ihre Kraft. Und diese gehört Cigaal, der allen zum Antrieb wird.
Araweelo und Cigaal
Gespräche und Bilder mit Bedeutung und Sinn
Licht und Leichtigkeit prägen das in seiner Einfachheit bestechende Setting. Wenn Araweelo ihren Stand zwischen Blechhütten aufstellt, ausgebleichte Farben sich ins allgegenwärtig Sepia der Wüste passen und warme Töne die Stimmung im Haus reflektieren, ist der zwischenmenschliche Grundton dieser Gemeinschaft gesetzt. Mamargade und Cigaal verstehen sich bestens. Ihre Beziehung rührt ans Herz, weil der Witwer sich zwischen seinen Jobs für den Jungen Zeit nimmt. Tantchen Araweelo, wie er sie nennt, vervollständigt als emanzipierende Frau das Trio und verleiht ihm Drive.
Als die Lehrer eines Tages keinen Lohn mehr erhalten, wird die Schule geschlossen. Auf den Staat kann niemand zählen, die Schule funktionierte mit Spenden, die zunehmend ausbleiben. Mit Stolz und Ehrfurcht vernimmt Mamargade von der Schulleiterin, dass Cigaal mit seinen Begabungen eigentlich aufs Internat in die Stadt gehöre. Doch wie bezahlen? Araweelo ist von Hoffnung beseelt und verfolgt beharrlich einen Plan.
Mo Harawe zum «Paradies»
«Für mich ist Somalia ein Land neben dem Paradies; es ist potenziell eine Art Paradies, aber aus vielen Gründen wird dieses Potenzial nicht ausgeschöpft», meint Mo Harawe. Dies im Film sichtbar und hörbar zu machen, ist die Leistung des Autors und Regisseurs. Erfahrbar wird es in Szenen, die exemplarisch sind für die Arbeit von Mo Harawe und des ägyptischen Kameramanns Mostafa El Kashe mit seinen sorgfältig gestalteten Tableaus. Öfters verweilt die Kamera bei den einzelnen Figuren und macht so ihre Gedanken erahnbar. Oder sie beobachtet Cigaal beim verträumten Spiel mit einem Papierflugzeug, gleitet langsam weiter zu Araweelo, beziehungsweis einer Fotografie ihrer zerbrochenen Ehe. Nahaufnahme auf ihr Gesicht. Ihr Blick nach oben führt nahtlos in die nächste Aussenszene, in der sie auf das hoch hängende Schild eines Blechschuppens schaut. Hier könnte sich ihr Traum von einem windgeschützten Nähatelier verwirklichen. In einem Augenschlag und Schnitt (Joana Scrinzi) geraten wir von der verblassenden Vergangenheit in die hoffnungsvolle Zukunft und werden vom inneren Antrieb der Figuren erfasst.
Das sind Bilder eines Landes, in dem der Regisseur aufgewachsene, als junger Mann aus seiner Heimat geflohen ist und heute in Österreich lebt. Sein erster Langfilm, nach acht Kurzfilmen, beeindruckte 2025 am Filmfestival von Cannes, Sektion Un Certain Regard, Publikum und Presse, wurde als bester Spielfilm ausgezeichnet und überzeugte als authentische Produktion aus einem Land, das bisher vor allem Schauplatz US-amerikanischer Projekte war.
Sohn und Vater in der Schule
«Neben dem Paradies»
Mo Harawe zum Filmtitel: «Für mich hat der Titel zwei Ebenen. Auf der einen gibt es dieses Dorf am Meer, wo es so schön ist, dass die Vorstellung von Paradies naheliegt, wo es wundervolle Orte mit wilden Stränden gibt. Auf einer anderen kann dieser Name auch für Somalia selbst stehen, ein Land mit einem unglaublichen Potenzial. Es hat die längste Küste Afrikas, mit dem Indischen Ozean auf der einen und dem Golf von Aden auf der anderen Seite. Doch es gibt hier so viele Probleme, die sowohl von Menschen als von äusseren Kräften verursacht werden. Für mich ist Somalia ein Land neben dem Paradies. Es ist potenziell eine Art Paradies, aber aus vielen Gründen wird dieses Potenzial nicht ausgeschöpft.»
Wo und was ist das wirkliche Paradies?
Immer wieder fällt im Film das Wort «Paradies». Damit dürfte wohl mehr gemeint sein als bloss eine Ortsbezeichnung. Damit dürfte wohl auch nicht gemeint sein, was wir von den christlich-jüdisch-muslimischen Religionen als Paradies übernommen und damit eine Metaphysik gebaut haben. «The Village Next to Paradise» handelt von einem irdischen, natürlichen, physischen, keinem philosophisch-theologischen, also metaphysischen Paradies. Gemeint ist im Film die Natur, die Erde, das Erdendasein, das Leben, das Hier und Jetzt.
Blickt man am Schluss mit dieser Annahme auf den Film zurück, dann entdeckt man unzähligen vordergründigen und hintergründigen Belege dafür. Auffällig sind die Dialoge, aus denen, nach Martin Buber, bekanntlich erst menschliches Leben entsteht. Es sind die alltäglichen Gespräche, in denen die kleinen und grossen Probleme behandelt und gelöst werden. Sie laufen getragen und langsam, wie in Zeitlupe aufgenommen, ab: anteilnehmend, respektvoll, sorgsam, vertrauend, ernst und heiter, zärtlich, Liebe ausstrahlend und Liebe weckend. Die schön inszenierte Schlussszene erinnert nochmals daran, worum es im ganzen Film geht: den Willen zum Weitermachen, egal wie schwierig die Lage auch sein mag, die Sehnsucht, die dazu antreibt und beflügelt.