La Venue de l'Avenir
Adèle, um die sich vieles dreht
Im Jahr 2025 erfahren dreissig entfernt Verwandte, dass sie ein seit Jahren leerstehendes Haus in der Normandie erben können. Drei Cousins und eine Cousine werden beauftragt, dieses zu inspizieren. Dabei stossen sie auf die Spuren der geheimnisvollen Adèle Meunier (Suzanne Lindon). Durch gemeinsames Suchen und Fragen erfahren sie einiges über ihr Leben. Sie wurde 1873 geboren, von ihrer Grossmutter grossgezogen und hat nach deren Tod mit Zwanzig ihre Heimat und ihren Freund verlassen, um in Paris ihre Mutter Odette (Sara Giraudeau) zu suchen ̶ und wir erhalten Gelegenheit, die Hauptstadt des Fin de Siècle aus nächster Nähe zu erleben.
Dem französischen Erfolgsregisseur Cédric Klapisch ist es mit seinem neuen Ensemblefilm gelungen, interessante und spannende Menschen und Ideen miteinander zu verbinden und uns mit dem Leben im späten 19. Jahrhunderts bekannt zu machen. ̶ Im Gegensatz zum heutigen Mainstream feiert Klapisch in diesem Film das Konzept Zukunft.
Die Erbenvertretung
Vom Museum zur Metapher
Mit «La Venue de l’Lavenir» gelang dem Regisseur ein grossartiges, ein ehrgeiziges Fresko, in dem sich Epochen und Generationen, Absichten und Träume kreuzen und vereinen. Bereits der Vorspann, ein wunderbar gestylter Tauchgang in die Galerie Durand-Ruel, gibt den Ton an für den ganzen Film: Anhand einer vielstimmigen Sequenz fängt er wie in einem Kaleidoskop zeitgenössisches Verhalten der Kunst gegenüber ein und hinterfrägt unsere Beziehung zu Bildern, Kunst und Kultur und zu uns selbst. Schon die erste Sequenz erweitert den Film zur Metapher, die immer wieder aus dem Hintergrund im Vordergrund auftaucht.
Ankunft in Paris
1895 und 2025
Schon das Drehbuch überzeugt: Vier Cousins aus der Gegenwart finden sich unfreiwillig in einem Erbschaftsabenteuer, das sie mit ihren Vorfahren in Kontakt bringt. Der Filmemacher zeichnet seine Figuren mit groben Strichen und stellt uns vier Archetypen vor: den Content Creator auf der Suche nach seiner Identität (Abraham Wapler), die gestresste Managerin, die sich nach Liebe sehnt (Julia Piaton), den Lehrer, der die französische Sprache und Kunst hütet (Zinedine Soualem) und den erleuchteten Umweltaktivisten (Vincent Macaigne). Ein Schnitt oder ein Blinzeln, und die Geschichte kippt vom einen Jahrhundert ins andere. Alle Personen des Films werden mit einer Mischung aus Humor und Kritik dargestellt, sind verkörpert von grossartigen Darsteller:innen. Und auch der Blick des Regisseurs auf die zeitgenössischen Neurosen ist mal zärtlich, mal spöttisch, immer jedoch in einem Alltag verankert, den das breite Publikum kennt.
Der Fotograf Lucien, Adèle, der Maler Anatole (v. l.)
Unterhaltung für Geist und Seele
Eine Herausforderung liegt bereits in der Anlage des Buches. Das Hin und Her zwischen 2025 und 1895 ist mal fliessend, mal abrupt. Die brillante Kamera (Alexis Kavyrchina) und die kluge Montage (Anne-Sophie Bion), vorbereitet mit drei Jahren Locationsuche, ermöglichen es Klapisch, visuelle und akustische, emotionale und intellektuelle Verbindungen zwischen den Epochen zu knüpfen und spielen zu lassen. Es fasziniert, wie ein und derselbe Ort mehrere Zeiten durchlebt, eine Stiege der Seine, die im 19. Jahrhundert von Adèle und im 21. von einem Jogger mit fluoreszierender Kleidung benützt wird. Die Reise in ihre Genealogie führt die Forschenden zu jenem besonderen Momentum des späten 19. Jahrhunderts: die Geburt des Impressionismus und die Erfindung der Fotografie.
Trotz Einfachheit, die jedoch auf differenzierten Überlegungen fusst, entfaltet der Film seinen Charme und seine Rekonstruktion der Belle Époque. Suzanne Lindon, mit dem Herzstück einer zärtlichen Dreiecksbeziehung mit Vassili Schneider, dem Jungmaler Anatole, und Paul Kircher, dem Jungfotografen, verleiht der Geschichte Heiterkeit und Zuversicht, berührt mehr, als dass sie aufrüttelt, amüsiert mehr, als dass sie Fragen stellt, lässt aber nie gleichgültig. Klapisch bleibt sich treu und feiert ein allgemein zugängliches Kino, in dem die kollektiven Emotionen über die Strenge des Themas siegen. Unterhaltung im Sinn des Wortursprungs bietet «La Venue de l’Avenir» reichlich Unterhalt: existenzielle(r) Unterhalt(ung) für Geist und Seele.
Odette und Adèle
Zukunft aus der Vergangenheit
Klapisch hat einen Teil seiner umfangreichen Familiensaga, die Epochen und Generationen miteinander verbindet, kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert angesiedelt, einer Epoche, die er besonders schätzt: «Ich wollte vor allem aus visuellen und ästhetischen Gründen über diese Ära sprechen. Ziemlich schnell sagte ich mir, dass ich dafür beide Zeitlichkeiten wünsche. Es lag auf der Hand, die Epochen 1895 und 2025 zu vergleichen, von einer zur anderen zu wechseln und damit zu spielen, um über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sprechen», sagte der 63-jährige Regisseur.
«La Venue de l’Lavenir» ist wie ein Diamant, der von einem Goldschmied nach und nach geformt wird. So enthüllt das Drehbuch erst allmählich seine verschiedenen Facetten, brillant und grossartig. Was für eine bewegende Reise diese Familie auf der Suche nach ihrer Vergangenheit doch macht! Ein beeindruckender und berührender Balanceakt zwischen den Epochen der Kunst und der generationsübergreifenden Sensibilität. Dank dem schlichten und dennoch grossartigen Spiel schliessen wir uns den Figuren mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten an und fühlen und denken mit ihnen.
Zurück aufs Land
Cédric Klapisch zu seinem Film
«Ich habe immer Fotografen wie Eugène Atget oder Frank Nadar verehrt. Vielleicht weil sie die ersten waren, die Erinnerungen an Paris, meine Stadt, auf Film verewigt haben. Aber vor allem, weil ihre Bilder mich besonders berührt haben. Seit Jahren habe ich Fotobücher gesammelt, die mich rund um diese Zeit reisen und träumen lassen. Ich habe eine Ausstellung über Edgar Degas gesehen, in der es um den Einfluss ging, den die Fotografie auf die Malerei hatte. Schon früh wollte ich, dass unser Drehbuch auch von dieser Verbindung zwischen Fotografie und Malerei handelt.»
Die Ankunft eines neuen Werkzeugs, mit dem die Realität abgebildet werden konnte, veranlasste die Maler zwangsläufig, ihre Art und Weise, die Welt zu betrachten, abzubilden und schliesslich ihre Malerei in eine andere Richtung zu lenken ̶ und uns, neu, innovativ und grundsätzlich, uns mit unserer Wahr-Nehmung zu befassen.
Regie: Cédric Kalpisch, Produktion: 2022, Länge: 124 min, Verleih: Frenetic