Sirât
uis mit Esteban
Einführung mit KI: «Sirât», der neue Film von Óliver Laxe, wird in deutschen Filmkritiken als intensives, sinnliches und herausforderndes Kinoerlebnis beschrieben. Die Meinungen gehen auseinander; viele loben die audiovisuellen Elemente, die konsequente Umsetzung der dystopischen Atmosphäre und die emotionale Tiefe, während andere die radikale Erzählweise und die düstere Stimmung als anstrengend empfinden.
Persönliche Empfehlung und Warnung: Der in Paris geborene, in Spanien, Marokko und Frankreich aufgewachsene Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler Óliver Laxe polarisiert: Er reisst uns mit seinem vierten Film brutal aus unseren Umwelten heraus und katapultiert uns in eine für viele fremde, herausfordernde Welt, erschüttert uns lange und intensiv, bis er uns am Schluss mit einem unvergesslichen Kinoerlebnis belohnt.
Der Titel «Sirât» stammt aus dem arabischen Islam und bezeichnet die Brücke, die alle Menschen überschreiten müssen, um ins Paradies zu kommen. Die Brücke ist «so dünn wie ein Haar und so scharf wie ein Messer». Diesen scharfen, schmalen Grat beschreiten die Figuren des Films. Der Regisseur dazu: «Ich interessierte mich schon immer für die tiefere Bedeutung des Wortes, das man auch als Pfad übersetzen kann. Dieser hat zwei Dimensionen: eine physische und eine metaphysische.»
Óliver Laxe wurde an den Filmfestspielen von Cannes schon mehrfach ausgezeichnet, für «Sirât» 2025 erneut mit dem Jurypreis. Mit hypnotischen Beats, immersiven Klängen und bildgewaltigen Landschaftsaufnahmen zieht der Film das Publikum in den Bann und geht mit seiner Schonungslosigkeit unter die Haut. Das sind Momente radikaler Authentizität. Das ist Kino als Grenzerfahrung. Eine spirituelle Reise durch Schmerz, Stille und Ekstase, roh, intensiv, doch zutiefst menschlich.
Aufbruch zum zweiten Rave
Anmerkungen des Regisseurs Óliver Laxe
«Wir leben in unsicheren Zeiten. Selbst mit den besten Absichten und Umständen, die uns drängen, die Richtung zu ändern, ist dies sehr schwierig. Erst extreme Erfahrungen, vor allem solche in Todesnähe, markieren oft einen Wendepunkt im Leben und bringen uns in eine neue, gute Richtung. Es sind Situationen, in denen das Leben uns zeigt, wer wir wirklich sind. Genau dann kann sich der Mensch von seiner besten Seite zeigen, dann verfügt er über eine innere Kraft, die tief mit dem Wesen seines Daseins verbunden ist. «Sirât» ist ein harter Film, aber von notwendiger und konstruktiver Härte.
Die Ereignisse im Film zwingen die Figuren, Raum für Veränderung zu schaffen und dabei zu wachsen. Am Tiefpunkt angelangt, werden sie gezwungen, sich mit sich selbst zu konfrontieren, denn sie haben nichts mehr zu verlieren, ihr Ego ist zerschmettert, sie haben keine Angst mehr und sind bereit, durchs Minenfeld zu gehen und mit der Ewigkeit zu tanzen.
Ich glaube, das Kino ist ein geeigneter Ort, um diese Erfahrungen neu zu durchleben. Der Film soll uns erschüttern und nach innen blicken lassen. Alle Figuren in diesem Film sehen dem Tod in die Augen. «Sirât» ist ein Film über den Tod, vor allem aber ein Film über das Leben, darüber, was bleibt, wenn man den Boden unter den Füssen verloren hat.
Roadmovie in der Wüste
Zwei Familienmodelle
Luis, die Hauptperson, Sergi Lopez, der einzige Profi auf dem Set, ist ab Anfang auf der Suche nach seiner verlorenen Tochter, die er nie finden wird, sein Sohn hilft ihm und kommt dabei ums Leben. Die traditionelle Familie ist damit ausgelöscht, tochterlos, sohnlos! Die Suche nach der Tochter und die Trauer über den Sohn wecken bei den andern der vom grossen Tross abgespalteten Gruppe Anteilnahme, Sympathie, Liebe. Es entsteht Gemeinschaft, eine neue Familie! «Sirât» wird zum Film des Überlebens inmitten des Schmerzes. Im Herzen des Dunkels bleibt die Menschlichkeit zerbrechlicher Figuren, die sich ihrer Unzulänglichkeit bewusst sind in einer Welt, die grösser ist als sie. Männer und Frauen, die nach anfänglichem Misstrauen beginnen, sich umeinander zu kümmern, urteilsfrei, als stille Gemeinschaft verwundeter Seelen der Ausgestossenen, von Stef, Josh, Tonin, Jade, Bigui und Luis.
Óliver Saxe: «Tief im Innern sind wir alle gebrochene Wesen. Aber die meisten von uns entwickeln Mechanismen, um diese Wunden zu verbergen. Das ist es, was ich an Ravern liebe: Sie zeigen ihre Brüche offen, ungefiltert. Auch für mich war dieser Film eine extreme Reise. Er hat mir erlaubt, mit meinen eigenen Wunden in Beziehung zu treten.» Franz von Assisi sagte: «Die Gnade findet man bei den Ausgestossenen.» Und Rûmî formulierte, dass gebrochene Herzen die schönsten seien, «denn das Licht tritt durch ihre Risse ein».
Die neue Familie
Tanzen bis zum Weltuntergang
Weiter aus den Anmerkungen des Regisseurs: «Filmbilder enthalten Feuer, wenn sie auf der Leinwand erscheinen, können sie uns wie Blitze durchbohren. Die Töne entstehen im Inneren eines jeden Zuschauers: Es sind Teilchen, die ihre Körper bewohnen, Moleküle, die durch die Vibration der Musik aktiviert werden und zu tanzen beginnen.
Die Zusammenarbeit mit David Letellier war ein entscheidender Schritt in meiner künstlerischen Arbeit. Noch nie hatte ich Gelegenheit, mich musikalisch so präzise auszudrücken. Mir schwebte eine Klangreise vor: von rohem, mentalem Techno zu einer puristischen, minimalistischen musikalischen Stimmung, die beinahe etwas Übersinnliches an sich hat. Eine Reise zu jenem Ort, an dem sich der Klang auflöst.
Ich wollte, dass sich die Erzählung, jede mögliche Melodie, in eine reine Klangtextur auflöst. Dass das grobe Korn des 16mm-Filmbilds mit der Musik in ihrer Verzerrung zu vibrieren beginnt. Wir wollten die klangliche Materialität des Bildes (Kamera Mauro Herce) verstärken, bis zu dem Punkt, an dem man die Musik sehen und das Bild hören kann. Das Ergebnis ist eine Klanglandschaft in Symbiose mit den Orten. Die Wüste, ihre gespenstische Erscheinung und die Musik selbst werden zu Landschaften in unserem Bewusstsein.»
«Sirât» ist, so meine persönliche Meinung, kein Eskapismus, also Flucht, sondern Metapher, also Verdichtung, stellvertretend für unzählige Bilder und Töne für den Tanz bis zum Weltuntergang, wie wir ihn täglich und stündlich in kleinen Szenen erleben, befürchten, erahnen... erzählt in einer Geschichte der Zärtlichkeit und Liebe.
Regie: Óliver Laxe, Produktion: 2025, Länge: 115 min, Verleih: Filmcoopi