In die Sonne schauen
Neugier und Tabu
Jede Person auf diesem abgeschiedenen Hof erlebt ihre Kindheit oder Jugend anders. Während sie ihre Gegenwart durchstreifen, öffnen sich ihnen Spuren in die Vergangenheit. «In die Sonne schauen» ist eine Entdeckungsreise in die feinsten Verzweigungen der Gefühlswelten über vier Generationen. Mascha Schilinski schuf mit ihrem epochalen Werk die Sensation des letzten Festivals in Cannes und gewann den Jurypreis. Ihr Film bohrt sich tief in unsere Wahrnehmung und inszeniert Wunder, wo Empfinden am flüchtigsten ist, im verblassenden Gefühl der Zeit.
Annäherung
«Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist», schrieb einst Victor Hugo. Und das gilt exakt für diesen Film. «Ich möchte lieber, dass die Leute einen Film fühlen, bevor sie ihn verstehen», schrieb einst Robert Bresson. Und das gilt auch für diesen Film. Mit diesen beiden Sätzen nähere ich mich einem Film, für den mir die Worte fehlen, nicht aber das Fühlen, über den ich nicht reden kann, aber nicht schweigen will.
Die beiden Titel, «In die Sonne schauen» bei uns, «Sound of Falling» im Ausland, deuten die ästhetische Höhe und Tiefe des Werkes an: Das Licht und die Töne, die uns geschenkt sind, also die Welt, die wir sehen und hören. Weiter hole ich zur Annäherung an das Werk nachfolgend Ausschnitte aus einem Interview mit der Regisseurin.
Von oben und unten
Mascha Schilinski zum Film
Was hat Sie zum Film inspiriert?
Meine Co-Autorin Louise Peter und ich verbrachten einen Sommer in der Altmark auf dem Hof, der später der Drehort des Filmes wurde. Beim abendlichen Wein haben wir uns ausgemalt, wer hier wohl früher wohnte. Es gab eine Fotografie des Hauses um 1920, die wie ein Schnappschuss wirkt. Darauf stehen drei Frauen und schauen in die Kamera. Dieser Blick der Frauen machte etwas mit uns, weil er uns unmittelbar ansprach. Wir standen in unserer Gegenwart, während diese Frauen die vierte Wand durchbrachen und uns anschauten. Damit hatten wir die Atmosphäre, die den ganzen Film durchzieht.
Um was geht es in der Geschichte?
Der Film erzählt von vier Mädchen, die zu unterschiedlichen Zeiten während eines Jahrhunderts auf einem Hof in der Altmark aufwachsen. Obwohl durch die Zeit voneinander getrennt, beginnen sich ihre Leben zu spiegeln. Für uns ging es um die Frage, was sich durch die Zeiten in unser Körpergedächtnis einbrennt. Was blickt uns aus jener Zeit an? Während der dreijährigen Drehbucharbeit setzten wir uns mit der Frage auseinander, wie Erinnern funktioniert. Während der Recherche fiel uns auf, dass es im historischen Material kaum einen weiblichen Blick gab. Es gab Kindheitsgeschichten, in denen wir über ein paar merkwürdige Bemerkungen stolperten, Leerstellen, über die nicht gesprochen wurde. Wo solche spürbar wurden, versuchten wir mit unseren Figuren zu erkunden, was dort sein könnte. Dabei wurde klar, dass das, was wir im Film nicht sehen, genauso wichtig ist, wie das, was wir sehen.
Spielend leben
Was war Ihnen wichtig zu erzählen?
Der Film funktioniert wie ein assoziativer Bilderstrom, der die Erinnerungsfragmente der Figuren auf dem Hof miteinander verbindet. Bruchstücke, die sich zum Zeugnis einer kollektiven Erfahrung formen, die sich über Generationen hinweg in den Körpern manifestiert hat. Dabei war uns wichtig, im Zusammenhang mit Traumata nicht nur auf die offensichtlichen Schauplätze wie Krieg oder Missbrauch zu schauen, sondern uns mit gleicher Intensität den leisen inneren Beben unserer Figuren zu nähern. Es kann ein Blick sein, der sich unter die Haut eingebrannt hat. Uns interessierten auch die feinstofflichen kleinen Sachen. In diesem Ensemblefilm gibt es keine klassischen Hauptfiguren. Alma (1910er), Erika (1940er), Angelika (1980er) und Nelly (2020er) schauen auf das, was um sie herum geschieht. Jede Person, die sie beobachten, wird für Momente zur heimlichen Hauptfigur.
Erwachsen werden
Was war die grösste Herausforderung beim Drehbuch?
Bei der Drehbuchentwicklung war es nicht möglich, eine Handlung zu konstruieren. Wann immer wir den Versuch machten, einen Plot zu definieren, war es, als wehre sich der Stoff dagegen. Ich hatte viele Bilder im Kopf und das Gefühl einer bestimmten Atmosphäre. Wir begannen, diese Bilder aufzuschreiben und miteinander zu verknüpfen. Das hat sich als richtig erwiesen. Aber es war für meine Mitautorin Louise Peter und mich immer wieder herausfordernd, diesem Prozess zu vertrauen. Doch der Film hätte nicht funktioniert, wenn das Dorf uns Neulinge nicht unterstützt hätte. Es war unglaublich schön, ein grosses Geschenk!
Im Film geht es um Fragen der Zeit, vor allem bei den Frauen.
Bei den Recherchen stiessen wir auf Beispiele von schlimmer Behandlung von Mägden. Von ihnen selbst gab es wenige Aussagen, sie konnten ja häufig nicht schreiben. Eines der wenigen Zitate hat sich bei uns eingebrannt. Eine Magd blickt auf ihr Leben zurück und sagt: «Ich habe eigentlich völlig umsonst gelebt.» Wir haben uns gefragt, was ein solcher Satz heute bedeutet, und wie solche Erfahrungen durch die Zeiten sich auf das Leben auswirken. Auch heute gibt es Menschen, nicht nur Frauen, die nur überleben. Im Film geht es jedoch nicht nur darum, welche Gewalt Frauen angetan wurde, sondern auch, welche Gewalt diese selbst ausübten. Uns interessierte, was ein solches Trauma bewirkt.
Alt mit jung
Wie würden Sie die Ästhetik Ihres Films beschreiben?
Mir war von Anfang an klar, dass es ein Film über das Erinnern wird, wie Wahrnehmung und Erinnerung ineinandergreifen. Und ich habe festgestellt, wie ich mich aus dem Körper heraus erinnern kann, mich im Nachgang zu einem Erlebnis quasi von aussen betrachte. Es war mir klar, dass ich den Film aus subjektiver Sicht erzählen will. Ich suchte lange mit dem Kameramann Fabian Gamper eine Übersetzung dafür. Unsere Kamera ist wie ein Protagonist in den Szenen präsent. Eine wichtige Hilfe war Francesca Woodman, in deren Fotografien es durchsichtig schimmernde Geisterfiguren gibt. Diese schwebende, fliegende Stimmung hat mich fasziniert. Zum anderen war mir wichtig, dieses Gefühl der Unverfügbarkeit darzustellen, wenn sich mit der Zeit ein Schleier über die Erinnerung legt. Es dauerte, bis wir die technischen Lösungen dafür fanden. Wir drehten mit verschiedenen Optiken, mit der Steadycam und mit einer Lochkamera, um das Gefühl von Entfremdung einzufangen.
Mascha Schilinski
Was ist Ihre Vision für das Kino der nächsten Jahre?
Die Erzählform des Kinos ist im Vergleich zu anderen Kunstformen noch sehr jung. Da ist noch viel zu erkunden, wie man filmisch erzählen kann, inhaltlich wie formal. Ich spüre eine tiefe Sehnsucht nach Filmen, mit denen ich nicht gerechnet habe, keine Filme, die ein relevantes Thema durchdeklinieren, bei denen man schon am Anfang weiss, wo der Erzählbogen landet. Ich hoffe auf Filme, durch die man echte Erfahrungsräume betreten kann, wo die Filmschaffenden etwas riskieren, weil in der Kommunikation mit dem Publikum Wahrhaftiges preisgegeben wird und Fragen gestellt werden, auf die man nicht schon die Antwort kennt. Ich denke, nur so erfahren wir etwas, das uns weiterbringt, kann ein Film plötzlich für den Einzelnen wie eine lebensrettende Medizin wirken, weil man weiss, dass man nicht alleine ist.