La dernière fugue

«La dernière fugue» von Léa Pool, nach dem Roman «Une belle mort» von Gil Courtemanche: eine Hymne ans Leben mit seinen Sonnen- wie Schattenseiten – ein Meisterwerk!

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Die Alten erobern die Leinwand!

Das habe ich noch nie erlebt: eine solche Häufung von Filmen zum Thema Alter, zum Sterben, zum Suizid. Zu erwähnen sind «Mammuth» von Benoit Delépine und Gustave von Kervern, «Small World» von Bruno Chiche, «Satte Farben vor Schwarz» von Sophie Heldman, «Another Year» von Mike Leigh, «Welcome to the Riley» von Jake Scott, «Das Ende ist mein Anfang» von Jo Baier, demnächst «La tête en friche» von Jean Becker, «En familie» von Pernille Fischer Christensen und «La petite chambre» von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond sowie «Der Sonntagsvierer» von Sabine Boss im Schweizer Fernsehen, die DOK-Sendung «Dein Schmerz ist auch mein Schmerz» von Marianne Pletscher auf SRF sowie diverse kurze, mittellange und lange Dokumentar- und Spielfilme an den Solothurner Filmtagen – und jetzt als Höhepunkt der Reihe: «La dernière fugue» von Léa Pool.

Über die Gründe für diese auffällige Häufung lässt sich spekulieren. Meine vorläufigen Antworten sind, die Fakten der Demografie und die Ökonomie der Filmwirtschaft berücksichtigend, die folgenden:

Die Menschen werden älter. Es gibt folglich auch immer mehr Alte, die anspruchsvolle Filme besuchen: für das Kino ein willkommener Zuwachs angesichts des sich verringernden Anteils der Jungen.

Das Thema Älterwerden in aller Mund, Alte nicht nur als Faktor erhöhter Krankenkassenkosten oder als neu entdeckte Konsumenten, sondern umfassender als Inhalt des politischen und kulturellen Diskurses.

Die Selbsttötung als freier Willensakt wird heute in der Öffentlichkeit und in den Medien breit und engagiert diskutiert, ähnlich wie man in den Siebzigerjahren über die Abtreibung gestritten hat.

Gleichzeitig werden Altern, Sterben und unheilbare Krankheiten, gekoppelt mit einer wachsenden kritischen und emanzipierten Haltung der Medizin und den Ärzten gegenüber, heftig diskutiert.

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Die Filmemacherin Léa Pool

Einmal mehr hat die 1950 in der Schweiz geborene und heute in Kanada lebende Schweizer Regisseurin Léa Pool mit «La dernière fugue» ihr grosses Können unter Beweis gestellt. Auch bei ihrem neuen, sechzehnten Film hat sie mit starken Gesten, treffenden Dialogen, einem angenehmen Wechsel von Stille und Aktion, einer brillanten Orchestrierung der Familienkonversation und mit aussagestarken Landschaftsbildern gearbeitet. Einem filminteressierten Kinopublikum in der Schweiz sind wohl «La femme de l'hôtel», «Anne Trister», «À corps perdu», «Mouvements du désir», «Emporte-moi» oder «Maman est chez le coiffeur» bekannt. In all ihren Arbeiten geht sie mit ihrer Analyse unter die Haut, ohne dabei zu verletzen, weil sie den Menschen, deren Geschichten sie erzählt, wie mir scheint, sehr nahe ist, sie letztlich liebt.

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Eine einfache und dennoch vielschichtige Story

Drei Generationen umfassen die Personen der Familie Lévesque, die zum Beginn des Films traditionsgemäss den Heiligabend feiert. Doch diesmal ist das Bild getrübt. Anatole, der 75-jährige Anatole, der es von früher gewohnt ist, das Leben seiner Liebsten mit starker Hand zu dirigieren, leidet an Parkinson im fortgeschrittenen Zustand. Er wirkt gefangen in seinem kranken Körper und leidet darunter. Jedes Stücklein Brot, das er zum Mund führt, lässt seine Kinder erschaudern. Wie verhält man sich gegenüber jemandem, dem jetzt jeder Genuss und Spass versagt ist? Diese Frage spaltet die Familie. Doch die Liebe und Fürsorge der Mutter zu ihrem Ehemann, die eingeschworene Gemeinschaft des ältesten Sohnes André und des Enkelkindes Sam lassen den Vater doch immer wieder Glücksmomente erleben.

In jüngeren Jahren war er ein virtuoser Organist und leidenschaftlicher Fischer, ein guter, doch herrischer Vater und ein unternehmungslustiger Ehemann, der seine Familie zusammenhielt. Die Vergangenheit wird in mit 16mm-Kamera gefilmten, verklärten Bildern in die Gegenwart hinein montiert. Jetzt aber ist er zitterig, führt nur mit Mühe die Gabel zum Mund und spricht kaum mehr verständlich. Zudem muss er Diät halten, sollte auf Wein und Süsses verzichten, was ihn zornig und ungehalten macht, denn früher hat er gerne getafelt, war ein lebenslustiger Gourmet. Jetzt ist er es leid, zuschauen zu müssen, wie die anderen essen und trinken.

In einer Schlüsselszene sehen wir Anatole als jungen Vater mit seinem Sohn André beim Fischen. Der Junge fängt einen grossen Fisch, den ihm der Vater wegnimmt und sich vor der Familie damit brüstet. Das verletzt den Jungen tief. Erst als Anatole als greiser, kranker Vater im Rollstuhl mit André fischen geht, löst sich der Knoten der beschädigten Vater-Sohn-Beziehung. Den Fisch, den der Vater jetzt fängt, gibt er strahlend seinem Sohn. Der Bitte um Entschuldigung folgt die Verzeihung – was Anatole erst glücklich sterben lässt.

Mit dem Wort «fugue» im Titel scheint mir eine Doppeldeutigkeit anzuklingen: Eine letzte «Flucht» aus dem Leben und zugleich die letzte «Fuge» der heiteren und traurigen Musik des Lebens, wie der ganze Film nicht nur mit seiner grossartigen Musik auffällt, sondern als Ganzes dramaturgisch als Musik wahrgenommen werden kann.

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Anmerkungen der Regisseurin

«Nachdem ich den Roman «Une belle mort» gelesen hatte, war ich sofort davon überzeugt, dass es wunderbar wäre, aus diesem Stoff einen Film zu machen. Einen starken, aufregenden, provokanten und zugleich zutiefst menschlichen Film mit einigen subtil heiteren Tönen.

Diesen Ansprüchen gerecht zu werden, war eine besondere Herausforderung für mich. Emotionalität und das Nachdenken über die Fragilität des Lebens sind seit jeher Elemente meines Schaffens. Und in diesem Fall ergab sich zusätzlich die Chance, Humor und gesellschaftliche Reflexionen einfliessen zu lassen. Die Kraft eines Films erwächst aus der Universalität seiner Themen, die über ein individuelles Schicksal erzählt werden.

In «La dernière fugue» wird zusätzlich eine zeitgemässe Konfrontation mit der Macht einer Medizin erkennbar, welche darauf abzielt, Leben ohne Rücksicht auf die Wahrung der menschlichen Würde verlängern zu wollen. Es geht um entscheidende Lebensmomente, die uns alle betreffen: Wie verhalten wir uns in der Lebensphase, in der die eigenen Eltern gewissermassen zu unseren Kindern werden? In der Lebensphase, in der die Frage akut wird, wie wir ihnen im Angesicht des nahenden Todes ein angemessenes, möglichst bequemes, friedvolles Dasein sichern können.

Der Film berührt aber auch die Problematik des individuellen Entscheidungsrechts – sterben oder ein würdevolles Leben führen zu wollen. Und in der letzten Konsequenz geht es um uns selbst, um den unausweichlichen persönlichen Umgang mit dem Thema Sterben.

Doch letztlich ist der Film vor allem auch eine Liebesgeschichte zwischen einem Mann und einer Frau, einem Sohn und seinem Vater, einem Enkel und seinem Grossvater. Und genau das ist es wahrscheinlich, was uns hilft, die Bedeutung der «dernière fugue» besser zu verstehen. Hymne ans Leben mit seinen Sonnen- wie Schattenseiten – und an die Liebe.»

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