Reas
Yoseli, Nacho, Estefy, Noé, Paulita
Die Darsteller:innen erzählen, spielen, singen, musizieren und tanzen. So verarbeiten sie ihr schwieriges Leben und erträumen sich eine bessere Zukunft. Yoselis Rücken ziert ein Tattoo mit dem Eiffelturm und «Gib nie auf», träumte davon, nach Paris zu reisen, wird aber am Flughafen wegen Drogenhandel verhaftet. Nacho, der trans Mann, landet nach einem Betrug im Gefängnis, wo er eine Rockband gründet. Noé will einfach nicht wieder auf der Strasse landen. Ob sanftmütig oder tough, blond oder rasiert, cis oder trans, alle sind inhaftiert und spielen in einem knallbunten Musical aus ihrem Leben im Frauengefängnis Ezeiza im Süden von Buenos Aires ein Musical mit Rockkonzert, Modeschau und Boxkampf. Umrahmt wird die Handlung mit Yoselis Eintritt und Austritt im Gefängnis, wo sie mit ihrer schwesterlichen Art, alle zum Erzählen ihrer Lebensgeschichten bewegt.
Lola Arias, 1976 in Buenos Aires geboren, ist heute eine international anerkannte Schriftstellerin, Musikerin, Theater- und Filmregisseurs. Ihr künstlerischer Ansatz verarbeitet reale Erfahrungen in ihrer Umgebung. In ihrem Werk erforscht sie Themen wie Freiheit, Identität und gesellschaftliche Marginalisierung. «Reas» ist nach «Theatre of War» ihr zweiter Film, eine argentinisch-deutsch-schweizerische Produktion.
Mit Bewegen und Singen die Vergangenheit verarbeiten
Würdigung des Films «Reas» ...
Nicht wie unzählige hochdramatische, Gewalt kritisierende oder verherrlichende Gefängnisfilme, geht «Reas» in eine andere Richtung, fragt nach dem Inneren der Protagonistinnen, nähert sich mit Empathie und Witz einem Dutzend Gefangener. Bei den Beschreibungen geht es nur nebenbei um ihre Straftaten und Verurteilungen. Im Mittelpunkt stehen gefangene Menschen: ihre Resignation und Verzweiflung, ihre Träume und Sehnsüchtige, ihr Alltag, ihre Familie, ihre Vergangenheit, ihre Zukunft. Wir sind dabei, wenn sie miteinander sprechen oder schweigen, wenn sie ihre Gefühle mit Bewegungen, Singen und Musizieren ausdrücken. Dabei finden ihre Gefühle Worte, Töne, Klänge, beginnt ein therapeutischer und schliesslich politischer Prozess.
Die Akteure haben all dies in langen und intensiven Gesprächen Lola Arias anvertraut. Diese verarbeitete es in ihrem Film zu kurzen und langen, unterhaltsamen und aufwühlenden Episoden, die wie in einem Panoptikum das Leben der Insassen des leerstehenden Gefängnisses Caseros im Süden von Buenos Aires voll Sinnlichkeit brodelnd auferstehen lassen. Doch sind das nur Szenen aus Argentinien? Sind es nicht Ereignisse von da und dort? Erlebnisse von überall? Von Männern und vor allem Frauen? Von Jungen und Alten? Mit ihrer Kreativität ist Lola Arias mit «Reas» in die Abgründe der menschlichen Seele vorgedrungen und macht bewusst, wie, wo und warum wir alle auf diese oder andere Weise auch Gefangene sind.
Die Hochzeit von Yoseli und Nacho
... und Antworten von Lola Arias
Aus einem Interview mit der Künstlerin: «Reas» ist ein dokumentarisches Musical, ein Genre, das es eigentlich nicht gibt, ein einzigartiges Experiment. Der Film basiert auf Recherchen und Interviews, die ich mit Menschen geführt habe, die sich in den letzten Jahren in verschiedenen Frauengefängnissen geoutet haben, mit cis Frauen und trans Personen. Es ist ein Dokumentarfilm in dem Sinn, dass das Drehbuch, das ich für den Film geschrieben habe, auf den Geschichten basiert, die sie mir erzählt haben, und dass sie ihre Erfahrungen aus dem Gefängnis nachspielen. Andererseits ist es auch eine fiktionale Art, ihre Geschichten zu erzählen, sie treten auf, als wären sie Figuren in einem Spielfilm. Ausserdem werden die Szenen oft plötzlich durch Musik und Tanz unterbrochen. In diesem Sinn hat der Film auch etwas Reales, weil er auf dem basiert, was sie erlebt haben. Auf der anderen Seite ist er fiktional, weil sie tatsächlich inmitten ihres ehemaligen Gefängnisses, das zum Schauplatz des Films wurde, auftreten.
2019 beschloss ich, einen Film- und Theaterworkshop im Frauengefängnis von Ezeiza zu geben, als ersten Schritt zu einem Kunstprojekt. Ursprünglich wollte ich einen Film schreiben, der im Gefängnis gedreht werden sollte, während die Gefangenen ihre Zeit absitzen. Beim ersten Workshop haben wir einige Szenen aus ihrem Leben improvisiert. Während ich Choreografien und Karaoke-Sessions machte, habe ich gesehen, wie Musik und Tanz sie glücklich machen und ihnen neue Möglichkeiten geben, sich auszudrücken. Die Idee, ein Musical zu machen, wurde immer stärker. Im Gefängnis werden sie ständig beobachtet, nicht nur von den Wärter:innen, sondern auch von den anderen Gefangenen. Es gibt keinen Raum für Einsamkeit und Privatsphäre, keine Möglichkeit, ein «eigenes Zimmer» oder irgendetwas zu haben, das einen von anderen unterscheidet oder jemand anderes sein lässt. So entstand durch Schauspiel und Tanz ein anderer Raum der Freiheit, Fantasie und der eigenen Vorstellungskraft. Es war, als hätten sie vergessen, dass sie da waren. Dann kam die Pandemie, und wir konnten das Gefängnis nicht mehr betreten. Die Workshops wurden abgesagt, und mir wurde klar, dass es unmöglich sein würde, den Film dort zu drehen. Ich habe mir überlegt, draussen zu arbeiten, im realen Raum eines stillgelegten Gefängnisses.
Blicke vom Himmel herunter und zum Himmel hinauf
Gefangene mit den gleichen Wünschen wie die Menschen draussen
Unser Film durfte nicht eine dieser Serien sein, die Menschen stigmatisieren, die das Gefängnis zu einem Gewaltspektakel machen. «Reas» musste etwas anderes sein. Wir wollten die Erinnerungen, Fantasien und Sehnsüchte dieser Menschen zeigen. Und vor allem wollten wir betonen, was mir sehr wichtig ist, nämlich wie das Gefängnissystem aussieht. Wie ist es, im Gefängnis zu arbeiten, zu telefonieren, zu lieben? Das Genre des Musicals war die perfekte Form, um die Fantasie, die Vorstellungskraft zu betonen, die Darsteller:innen sich amüsieren und strahlen zu lassen, erstaunlich, schön und glamourös zu sein. Es gibt sicherlich Gewalt, Horror und Folter im Gefängnis. Aber es gibt auch Liebe, Gemeinschaft, Familie. Und diese aus dem Gefängnis stammenden Beziehungen sind das, was dich rettet.
Zum Vergleich mit «Reas» empfiehlt sich der ukrainische Dokumentarfilm «107 Mothers» von Péter Kerekes, der im Frauengefängnis von Odessa spielt.
Aktuell im Theater: Lola Aries kommt mit dem dokumentarischen Musical «Los días afuera» ans Zürcher Theater Spektakel, mit Aufführungen am 15., 16. und 17. August 2024.