Die Vorkosterinnen

Adolf Hitler schützen: Silvio Soldini erinnert uns mit seinem Film «Die Vorkosterinnen» an eine vergessene Praxis im Dritten Reich, nach der Frauen als Vorkosterinnen zwangsrekrutiert wurden, um den Führer vor einer Vergiftung zu schützen. Das wurde von einer Überlebenden berichtet, in einem Roman ausführlich beschrieben und in einem Film dramatisiert, welcher über Zeit und Ort seine Gültigkeit hat. Ab 12. Juni im Kino
Die Vorkosterinnen

Der Koch mit den Vorkosterinnen

 

Der italienisch-schweizerische Regisseur Silvio Soldini inszeniert in seiner ersten internationalen Produktion den auf wahren Begebenheiten basierenden Spielfilm mit weiblichem Widerstand und sich entwickelnder Solidarität über ein bisher kaum bekanntes Kapitel der NS-Diktatur. «Die Vorkosterinnen» basiert auf dem Bestseller «Le Assaggiatrici» von Rosella Postorini. Den Roman inspirierte Margot Woelk (1917 ̶ 2014) mit ihren Aussagen, die sie mit 95 Jahren über das machte, was sie im Dienste des Nationalsozialismus erlebt hatte. Zu hören im Gespräch im Anhang.

 

 

Vorkosterinnen.1

Rosa Sauer bei ihren Schwiegereltern

 

Herbst 1943: Berlin wird bombardiert, die junge Sekretärin Rosa Sauer flüchtet ins ländliche Ostpreussen, nach Gross-Partsch, wo ihre Schwiegereltern leben, während ihr Mann als Soldat an der Ostfront steht. In der Nähe des Dorfes befindet sich Hitlers verstecktes Hauptquartier «Wolfsschanze» im heutigen Polen. Unvermittelt werden Rosa und sechs andere Frauen der Umgebung von der SS als Vorkosterinnen eingezogen, um Hitler vor vergifteten Mahlzeiten zu beschützen, während ihnen köstliches Essen vorgesetzt wird und sie danach beobachtet werden.

 

Vorkosterinnen.7

Rosa, grossartig gespielt von Elisa Schlott

 

Die Situation eskaliert, als im Sommer 1944 das Attentat von Stauffenberg auf Hitler fehlschlägt und für die Frauen drakonische Massnahmen folgen. Sie werden gewahr, dass das nächste Attentat vielleicht mit Gift erfolgen könnte und sie «für ihr Vaterland» also in Lebensgefahr schweben. Gleichzeitig rückt die rote Armee immer näher. Als Rosa erfährt, dass eine der Frauen, mit denen sie sich angefreundet hat, Jüdin ist, fühlt sie sich verpflichtet, einen Weg zu finden, um mit ihr zusammen zu entkommen.

 

Vorkosterinnen.3

Einweisung an ihre Plätze am Tisch

 

Die Geschichte handelt vom Leiden der Menschen unter der Schreckensherrschaft des faschistischen Systems. So erzählt Margot Woelk 2012 im Alter von 95 Jahren davon, dass sie zusammen mit einer Gruppe junger deutscher Frauen in den frühen 1940er Jahren die Speisen vorkosten musste, die in der «Wolfsschanz» für Hitler zubereitet wurden. Die Italienerin Rosella Postorino veröffentlicht 2018 darüber den Roman «Le Assaggiatrici». Dies der Grund, warum Silvio Soldini seinen Film gleich betitelte wie die Schriftstellerin ihren Roman.

 

Obwohl der ganze Film in Bozen im Südtirol gedreht wurde, ist er so aufwendig und sorgfältig ausgestattet und agieren und sprechen die Darsteller:innen so authentisch, dass die Verortung der Geschichte im Ostpreussen der 1940er Jahre überzeugend gelingt.

 

Vorkosterinnen.5

Ein Essen, das gekostet werden muss

 

Erzählt wird die Geschichte konsequent aus der Perspektive der Protagonistin Rosa Bauer. Elisa Schlott, die sie verkörpert und in den meisten Einstellungen zu sehen ist, trägt den Film stimmungsmässig. Ihr gelingt es, durch einfühlsame und sensible Darstellung die Figur lebendig werden zu lassen. Durch diesen Blickwinkel bleibt vieles im Film ungezeigt und ungesagt. So ist vom Attentat auf Hitler nur die Explosion zu hören, und der SS-Obersturmführer Albert Ziegler (Max Riemelt), mit dem Rosa Bauer eine gefährliche Liebesbeziehung eingegangen ist, spricht in einer intimen Szene von den schrecklichen Taten, die er begangen habe.

 

Vorkosterinnen.10

In der Nähe der Detonation

 

Anders als Rosa kann das Publikum mit dem Wissen um Stauffenbergs gescheitertes Sprengstoffattentat und den Holocaust genau erkennen, was hier indirekt erzählt wird, ohne dass dafür die streng subjektive Erzählform verlassen wird. So bleibt der Film stets nah bei ihr und ihren Schicksalsgenossinnen. Soldini zeigt ihre Ängste und Verzweiflung und die kalte, gnadenlose Effizienz, mit der die Soldaten die «deutschen Mädchen» bewachen und als menschliche Versuchskaninchen einsetzen müssen. Immer wieder gibt es im Lauf der Rituale Momente, in denen Freundschaften zwischen den jungen Frauen entstehen.

 

Vorkosterinnen.12

Ein Tun, das auch Moral verlangt

 

Am stärksten sind Soldini und das gut gecastete Schauspieler:innen-Ensemble immer dann, wenn sie zeigen, wie die Gruppe in ihrer Zwangsgemeinschaft zusammenlebt. Eine weitere Stärke des Films besteht darin, dass die Bewacher nicht als Nazikarikaturen gezeichnet werden, sondern als Männer, die durch ihre Abrichtung in einem toxischen System ihre Menschlichkeit verloren haben.

 

 Vorkosterinnen.15

«Pane e Tulipane», 2000

 

Vergleichen ...

 

Dass Silvio Soldini einst die wunderbare, vielfach preisgekrönte Liebesgeschichte «Pane et Tulipane» mit Licia Maglietta und Bruno Ganz gedreht hat, daran erinnert man sich während der düsteren Leidensgeschichte der Vorkosterinnen nur selten und kurz, es offenbaren sich aber bei näherem Betrachten die Feinheiten. Vergleich man den Untergrund der beiden Plots, dann spürt man im neuen Film die ähnliche Liebenswürdigkeit und Menschenfreundlichkeit wie im früheren.

 

... und erinnern

 

«Zeitzeugen, die heute noch über den Zweiten Weltkrieg reden können, werden immer weniger. Dass dieser Krieg, dass der Holocaust einen so tiefen Eindruck auf unsere westliche Gesellschaft gemacht haben, hat auch damit zu tun, dass die schreckliche Zeit nach ihrem Ende lange überall präsent blieb. Dass Menschen, die das alles erlebt hatten, da waren und davon erzählten. Kollektives Erinnern funktioniert durch Vermittlung, durch Institutionen, Museen, Schulen, Filme... Dass nun ausgerechnet heute der grosse Krieg des 20. Jahrhunderts seinen Schrecken verliert, ist tatsächlich absurd ̶ aber auch nachvollziehbar», meint Philipp Loser in einer Kolumne im Magazin 19/2025 und erinnert daran, es nicht zu vergessen.

Margot Woelk
Regie: Silvio Soldini, Produktion: 2025, Länge: 121 min, Verleih: MFD Morandini