W. – Was von der Lüge bleibt

Seine Lebenslegende erfinden: Der Schweizer Rolando Colla hat uns mit seinem Film «W. – Was von der Lüge bleibt» einen brillanten Recherchierfilm geschenkt, der in viele Richtungen zum Denken anregt: Wie glaubwürdig sind Informationen? Was bedeutet Wahrheit? Gibt es verschiedene Wahrheiten?
W. – Was von der Lüge bleibt

Bruno Wilkomirski, * 12. Februar 1941

Das Buch «Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 – 1948» schlug international hohe Wellen – sowohl als es erschien, wie auch als sich herausstellte, dass die angebliche Autobiografie erfunden war. Der Berufsmusiker Bruno Wilkomirski beschrieb in seinem 1995 erschienenen Werk seine früheste Kindheit in einem Konzentrationslager. Er erhielt dafür Preise, war als Zeitzeuge und Experte gefragt. Nachdem vier Jahre später bekannt wurde, dass es sich bei «Bruchstücke» um Fiction, um eine Art Lebenslegende handelt, Bruno die ganze Kindheit in der Schweiz verbracht hatte, beharrte er zunächst auf der Richtigkeit seiner Erinnerungen. Dann zog er sich zurück und äusserte sich nicht mehr öffentlich – bis Rolando Colla diesen Film realisierte.

Dem 1957 in Schaffhausen geborenen Filmemacher ist es gelungen, mit Geduld, Unvoreingenommenheit und Empathie das Vertrauen Bruno Wilkomirskis zu gewinnen, der in «W. – Was von der Lüge bleibt» erstmals einräumt, das Buch «Bruchstücke» sei keine Autobiografie. Der Film geht nun den Fragen nach, welches Umfeld und welcher persönliche Hintergrund dazu führten, dass Wilkomirski dieses Buch so geschrieben hat und bis zu welchem Grad etwas universell Menschliches in dieser Täuschung liegt. Entstanden ist eine emotional starke, kluge und inspirierende Dokumentarfilm-Perle mit Illustrationen des Comiczeichners Thomas Ott.

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Bruno in seiner frühesten Jugend: in Maidanek oder in der Schweiz?

Ein Zugang zum Protagonisten und zum Film

 

Indem ich Interview-Antworten von Rolando Colla folge, versuche ich, mich dem faszinierenden und geheimnisvollen Film zu nähern und bitte Sie, mir auf diesem Weg zu folgen:

«Was waren für Sie die Beweggründe, den Fall Bruno Wilkomirski filmisch aufzurollen? In der Nacht nach der Premiere meines letzten Dokumentarfilmes (wohl «Sette giorni» 2016, HS) erschien mir Bruno Wilkomirski im Traum: Er kam in einem orangen Licht vor schwarzem Hintergrund auf mich zu. Am anderen Morgen wusste ich, dass er meine nächste Herausforderung ist, sofern es mir gelingen würde, ihn für das Filmprojekt zu gewinnen und sich das Unterfangen finanzieren liesse. Was er mit seinem Buch gemacht hatte, war im Grunde für niemand so richtig nachvollziehbar, auch wenn es viele Erklärungen zum Fall gab. Ich wollte den Menschen verstehen, an seine Geschichte und seine Persönlichkeit herankommen. Und es reizte mich, zu erfahren, wo er nach all den Jahren stand, was zurückblieb nach dem Skandal, ausserhalb des Rampenlichts.»

Wie waren Ihre Begegnungen mit Bruno Wilkomirski? «Am Anfang war Bruno eher misstrauisch und distanziert, als ich ihn besuchte. Aber ich liess mir Zeit, erzählte auch von mir selbst und brachte die Kamera erst nach einem halben Jahr mit. Er muss gespürt haben, dass ich ihm nicht feindlich gestimmt war. Umgekehrt blieb ich immer eher neutral in meiner Haltung, neugierig, aber nicht wertend. Als ich ihm nach einer Weile vorschlug, mit einem kleinen Team vorbeizukommen, wollte er das nicht. Nur im persönlichen, fast intimen Rahmen zwischen ihm und mir waren die Dreharbeiten möglich. Nach sieben Jahren hatte ich das Material beisammen.

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Daniel Ganzfried: auf der Suche nach der Faktizität der Wahrheit

Was treibt einen Regisseur zu einer solchen Recherche an?

«Es geht Ihnen in Ihrem Dokumentarfilm nicht um die Frage nach der Schuld oder um eine Verurteilung Bruno Wilkomirskis, sondern darum, wie die unerhörte Täuschung zustande kommen und solange aufrechterhalten werden konnte. Auffällig ist, dass Sie es vermeiden, Bruno Wilkomirski als blossen Täter darzustellen. Der Fall ist tatsächlich ziemlich komplex, Bruno ist als Mensch sehr facettenreich, es wäre uninteressant, ihn bloss als Opfer oder als Täter darzustellen. Er ist für mich, wie wir alle, ein Mensch mit einer Lebensgeschichte, mit Sehnsüchten und inneren Zwängen: Diese Schiene hat mich interessiert. Welches Umfeld und welcher persönliche Background haben das Buch als etwas hervorgebracht, das es nicht war, für das es aber jahrelang gehalten wurde, nämlich die Autobiografie des jüngsten KZ-Überlebenden? Wie lässt sich das im Nachhinein verstehen? Was sagt Wilkomirski dazu, ohne Druck und aus der zeitlichen Distanz? Bis zu welchem Grad steckt etwas universell Menschliches in dieser Täuschung? Das waren einige der Fragen, denen ich nachgehen wollte.» Die Suche nach der Faktizität ist im Film – und wohl in jedem Leben ein Weg, der Vielschichtigkeit des Lebens näher zu kommen.

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Karola Fliegner: auf der Wahrheitsuche mit Empathie

Metapher für etwas universell Menschliches

Im Film gibt es mehrere Szenen in einem Bad, in dem Bruno manchmal oberhalb, manchmal unterhalb der Wasseroberfläche gezeigt wird. Diese Auffälligkeit liess mich sogleich eine Deutung vermuten. Doch welche? Ich wandte mich an Rolando Colla und erhielt folgende Antwort: «Das Bad befindet sich in Abano Terme bei Padova in Norditalien. Dies wird am Ende eingeblendet, wenn der Protagonist zum Hotel fährt und die GPS-Stimme sagt: "Sie sind an Ihrem Zielpunkt angelangt." Am Anfang habe ich es bewusst nicht eingeblendet, weil der Ort für mich eine Metapher ist für Diverses: für das Leben (Wasser) und die Sehnsucht danach, für dieses Oben und Unten, die Gegensätze, die durch den ganzen Film gehen. Unten sehen wir den Kopf des Protagonisten nicht, oben sehen wir ihn zunächst im Dampf, in der Nacht, von hinten, als einen Körperteil also, den wir visuell nicht klar erfassen können und in den wir im Laufe des Films immer stärker hineinkommen.» Diesen Aufnahmen nachsinnieren, hilft vielleicht für weiterführende persönliche Interpretationen dieses verschlüsselten Filmes.

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Bruno und Eva hatten sich einst geliebt

Etwas universell Menschliches

«Die düster-faszinierenden Illustrationen des Schweizer Comiczeichners Thomas Ott verbildlichen die visuellen Leerstellen, die fiktiven Erinnerungen Bruno Wilkomirskis. Was war Ihre Überlegung dahinter und wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit Thomas Ott? Ich glaube nicht, dass die Erinnerungen von Wilkomirski rein fiktiv sind. Die Einbettung in die Shoah ist fiktiv und in gewissem Sinne anmassend, aber das damit verbundene Körpergefühl von Angst und Orientierungslosigkeit halte ich für real. Die hat Bruno als kleines Kind in der Schweiz mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit erlebt. In der Umsetzung von Thomas Ott kommt das Bedrohliche zum Ausdruck. Die Zusammenarbeit mit Thomas Ott war sehr inspirierend. Sie verlief parallel zu den Dreharbeiten und hat sich über mehrere Jahre erstreckt. Interessanterweise hat gegen Ende eine der Illustrationen von Thomas, die ich Bruno gezeigt habe, insofern eine Wende ausgelöst, dass Bruno über das dargestellte Kind reden konnte, ohne sich bedrängt zu fühlen. Er sprach indirekt über sich selbst, indem er über das Kind sprach, das auf dem Bild war und eine Erinnerung von ihm darstellte. So konnte er Dinge benennen, die er bisher nie benannt hatte. Ich denke, für die Zuschauer sind die animierten Illustrationen eine visuell-emotionale Bereicherung, für Wilkomirski waren sie eine Art Katalysator für die vor der Kamera ausgetragene Auseinandersetzung mit sich selbst.» In der Medienpädagogik sprich man vom «Tarnkappen-Effekt», wenn ein Menschen über etwas oder jemand spricht, dabei aber unbewusst oder bewusst von sich und über sich spricht. Im Film «W. – Was von der Lüge bleibt» von Rolando Colla über Bruno Wilkomirski führt dieser Weg vielleicht in die Nähe des Zieles. Dass Bilder, im Gegensatz zu Worten, mit ihrer Offenheit einer Deutung helfen können, ist für mich ein Fakt.

Bruno Wilkomirski: die Eckdaten

Regie: Rolando Colla, Produktion: 2020, Länge: 111 min, Verleih: Filmcoopi