Bergers

Hinauf in die Berge: Eine realistische und dennoch gleichnishafte Reise, aus den Büros der Städte hinauf zu den Hirten und Herden in die Berge, schildert der wunderbare dokumentarische Spielfilm «Bergers» der kanadischen Filmemacherin Sophie Deraspe, inspiriert vom semi-autobiografischen Roman «D’où viens-tu, berger?» von Mathyas Lefebure und 2024 ausgezeichnet als besten kanadischen Film. Ab 29. Mai im Kino
Bergers

 

 

Mathyas (Félix-Antoine Duval) tauscht sein Montrealer Leben als junger Werbefachmann ein, um Schäfer in der Provence zu werden. Die harte Realität der Hirtenwelt zwingt ihn jedoch, seine romantische Vorstellung dieses Berufes infrage zu stellen. Der Besuch von Élise (Solène Rigot), einer Beamtin, die ihren Job fluchtartig aufgegeben hat, gibt Mathyas' Suche eine neue Richtung. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Wanderschaft mit einer Schafherde, auf ihre Kosten und in ihrer Verantwortung. Durch die Begegnungen und Prüfungen in den Bergen werden sie sich ein neues Leben aufbauen.

 

Vorbemerkung: Als Kinogänger habe ich es schon erlebt, dass die Kommunikation und Aussage bei der Entwicklung und beim Drehen eines Films genau dem entsprachen, was der fertige Film schliesslich bot. Bei «Bergers» (Shepherds/Schäfer) scheint alles so verlaufen zu sein. Aus diesem Grund lasse ich die Drehbuchautorin und Regisseurin Sophie Deraspe in ihrem Interview über die Entstehung des Filmes erzählen ̶ und wir dürfen dann, indem wir den Text und den Film sehen, einen doppelten künstlerischen Genuss erleben. (Der erste Teil des Interviews nachstehend, der Rest im Anhang.)

 

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Élise

 

Interview mit der Regisseurin Sophie Deraspe

 

Wie war dein erster Eindruck vom Buch, und welches Potenzial sahst du für eine Verfilmung?

 

Ich habe Mathyas' Geschichte in einem Rutsch gelesen, sie ist so gut geschrieben und gleichzeitig so «lebendig», seine Ausbildung, die Reise durch eine Welt, die man mit ihm macht, mit Lachen und Weinen, und dabei lernt man viele Dinge. Es ist die Reise eines Intellektuellen, der mit Worten und Bruchstücken von Gelehrsamkeit mit einer enormen Selbstironie umgeht, sowohl sich selbst gegenüber als auch gegenüber der Welt um ihn herum.

 

Ich versuchte, das auch in den Film einfliessen zu lassen, aber je weiter es voranschritt, desto mehr entwickelte sich das Drehbuch in eine eigene Richtung. Es ist viel Zeit vergangen, seit diese Geschichte in den 2000er Jahren geschrieben wurde. Die Welt hat sich verändert, es gab eine Pandemie, viele Konflikte, und die Klimakrise ̶ die damals immerhin schon vorhanden war ̶ hat sich verstärkt. Das beeinflusste bestimmte Richtungen, die das Schreiben des Drehbuchs und die Dreharbeiten selbst nehmen konnten. Die Form des Zusammenbruchs, die wir erleben, macht uns die Zerbrechlichkeit des Systems bewusst und dann die Tatsache, dass wir aussteigen können, oder zumindest die Tatsache, dass wir etwas anderes träumen können. Diesen Traum, aus dem System auszubrechen, gab es schon immer, aber Mathyas hat mehr getan, als nur davon zu träumen. Er hat es getan, und zwar ohne grosse politische Slogans. Nur indem er es tat. Es war inspirierend, zu diesem einfachen und zugleich grossen Material zurückzukehren.

 

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Mathyas

 

Wie war dein Ansatz, das Material zu respektieren und dir kreative Freiheit zu erlauben?

 

Mathyas beschliesst, die Stadt hinter sich zu lassen, eine materialistische Welt der zu zahlenden Rechnungen, der Konformität und des geregelten Lebens. Wir brauchen uns nicht lange damit zu beschäftigen, wir wissen alle, was dabei herauskommt. Ich wollte direkter in das von Mathyas gewählte neue Leben einsteigen. Die Umsetzung im Film ist fast wie ein Märchen: Mathyas beginnt mit all seiner Schüchternheit und Ausdauer, trotz seiner Unerfahrenheit, eine Transformation, die ihn verschiedene Abenteuer erleben lässt. Er lernt das Leben eines Schäfers kennen und wird Teil einer mehr als tausend Jahre alten Tätigkeit, der nomadischen Wanderung mit Herden. Die Natur färbt seine eigene Natur und öffnet einen inneren Raum, in dem die Fürsorge für den anderen und die Liebe ihren Weg gehen können, trotz aller Schwierigkeiten, denen er begegnet.

 

Schon früh reiste ich nach Südfrankreich und in die Alpen, um den Spuren von Mathyas' Weg zu folgen. Ich musste die Welt der Hirten, der Viehzüchter, die Beziehung zum Land und zu den Herden spüren, hören, schmecken und meine Sinne einsetzen, um sie dann in Drehbuch und Regie umsetzen zu können. Ich hatte schon sehr früh das Gefühl ̶ und es wurde mir auf einer unserer wichtigen Sichtungstouren bestätigt ̶ , dass wir, je mehr wir uns an die Realität hielten, umso mehr etwas Authentisches aus diesen Dreharbeiten herausholen würden, etwas, das guttut, das uns zu einer Form des Wesentlichen zurückbringt. Von da an ist es nicht mehr so sehr der Roman, der die Arbeit diktiert, die wir tun müssen, es sind nicht mehr die Worte. Der Roman hat uns schlicht und einfach auf einen Kurs gebracht.

 

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Gerade die Kulissen sind sehr authentisch, die Suche nach Locations muss in der Vorproduktion sehr wichtig gewesen sein?

 

Es erschien uns zunächst wie ein gigantischer Berg, Orte zu finden, die den Anforderungen dieser

Geschichte gerecht werden, da wir von der trockenen Ebene Südfrankreichs in die grünen Berge der Hautes-Alpes gelangen. Die Realität und die Authentizität, die so sehr gesucht werden, stehen nicht immer im Einklang mit den Anforderungen des Kinos... Und wir wollten auch nicht auf die Freuden des Kinos verzichten! Die gesamte Organisation mit echten Schäfern, echten Züchtern und natürlich echten Herden, die ihre eigene Funktionsweise haben, die mit den Jahreszeiten, den Wanderungen und den Fortpflanzungszyklen verbunden ist, erwies sich als äusserst komplex, um sie mit unseren Dreharbeiten in Einklang zu bringen. Es gab einen Moment, in dem wir dachten, dass wir es nie schaffen würden. Aber der Wille und die Kreativität der verschiedenen Mitarbeitenden setzten sich schliesslich durch. André-Line Beauparlant war aussergewöhnlich: Sie liebt grosse Herausforderungen in ihrer Arbeit als Art-Designerin, aber sie hat auch eine dokumentarische Sensibilität, eine Liebe zu den Menschen und eine Art, mit ihnen in Beziehung zu treten, die für den Erfolg dieses Projekts unerlässlich war. Die Leute mussten genauso viel Lust haben, diesen Film mit uns zu machen, wie wir sie brauchten, um ihn zum Abschluss zu bringen.

 

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Was möchtest du, dass das Publikum aus dem Film mitnimmt?

 

Ich wünsche mir, dass dieser Film Gutes bewirkt. Dass das Publikum das Kino voller Mut und Zuversicht verlässt. Der Weg, den Mathyas und Elise eingeschlagen haben, ist nicht unbedingt leichter. Die Natur, das «einfache», genügsame Leben, kann auch sehr herausfordernd sein. Aber diesen Weg haben sie bewusst gewählt. Und das, was sie erleben, erleiden sie nicht, sondern sie lassen sich freudig darauf ein.

Rest des Interviews zum Film «Bergers»

Regie: Sophie Deraspe, Produktion: 2024, Länge: 114 min, Verleih: Filmcoopi