Jakobs Ross

Musik als Lebenselixier: Mit «Jakobs Ross» erzählt Katalin Gödrös eine im 19. Jahrhundert handelnde und ins Heute weisende grossartige Beziehungs- und Emanzipationsgeschichte, die unterhält, unter die Haut geht und zum Nachdenken anregt.
Jakobs Ross

Elsie: strahlend, singend, lachend


Die junge, musikalisch hochbegabte Magd Elsie träumt von einer Karriere als Musikerin,
muss in der Villa eines Textilfabrikanten den Boden schruppen. Der Direktor könnte sie
fördern. Doch als sie von ihm schwanger ist, wird sie eilig mit dem Rossknecht Jakob
zwangsverheiratet und auf eine ärmliche Pacht abgeschoben. Dieser hat nur einen Traum, er
will ein eigenes Ross und Fuhrmann werden; sie fügt sich vermeintlich ihrem Schicksal und
lebt mit Jakob, bis der junge Jenische Ricco auftaucht, der mit seiner Musik Elsies Traum
nährt, Liebe weckt, die tragisch endet. Elsie und Jakob müssen beim Kampf um ihre
gemeinsame Selbstbestimmung erkennen, dass sie nur eine Zukunft haben, wenn sie
zusammenspannen, samt Musik als Teil ihres Lebens.


Jakobs Ross.1. Elsie musiziert am Ball Herrenhaus.jpg
In den ersten zehn Minuten

Die Regisseurin Katalin Gödrös …


Die gebürtige Zürcherin und Wahl-Berlinerin Katalin Gödrös kommt nach ihren Spielfilmen
«Mutanten» und «Songs of Love and Hate», 7 Episoden des «Bestatters» und weiteren
TV-Filmen wieder ins Schweizer Kino. Neben ihrer Arbeit als Regisseurin ist sie an der
Deutschen Film- und Fernsehakademie, der Zürcher Hochschule der Künste, der
Drehbuchwerkstatt München und der Filmschule Köln tätig.


Jakobs Ross.5. Jakob mit Pferd.jpg
Jakob liebt Pferde

… und ihr Statement zu «Jakobs Ross»

 

In diesem Film begleiten wir Elsie und Jakob, zwei junge Menschen, die gegen alle
Widrigkeiten der Zeit und ihres Standes kämpfen und ihre eigenen Lebensträume haben. Die
Auseinandersetzungen in ihrer Zwangsehe um das Recht auf Selbstbestimmung sind
vergleichbar mit den Konflikten in modernen Beziehungen. Während Jakob sich von seinem
Schicksal als Knecht befreien möchte und um gesellschaftliche Anerkennung kämpft, träumt
Elsie von einem unabhängigen Leben als Musikerin. In ihrem Kopf ist sie frei von den
gesellschaftlichen Fesseln der Zeit und des Geschlechts, was sie zu einer modernen Frau
macht.


Ein Reichtum dieses Films liegt unter anderem in der Darstellung der Arbeit, dem rauen
Leben auf der Pacht, im Kontrast zur Sehnsucht und Hoffnung in der Musik: Hände, die in
der Erde nach Steinen wühlen, Hände beim ersten hilflosen Melkversuch, schwielige Hände,
die durch ein verschwitztes Pferdefell streichen. Der zaghafte Gesang von Elsie im
Herrenhaus und auf der kargen Pacht, der ihre Hoffnung spüren lässt, die sich in der
Begegnung mit dem jenischen Musiker Ricco erfüllt. Der Film strahlt in kräftigen Farben und
aus erfahrbarer Nähe zu den Figuren, egal ob sie vom Zauber der Musik, einer zehrenden
Sehnsucht oder der körperlichen Arbeit erzählen. Im Zentrum steht die Wahrnehmung von
Elsie. In ihren emotionalen Begegnungen mit Jakob, Ricco oder Sophie verschwinden die
Grenzen zwischen Aussen und Innen. Als könnte man selbst danach greifen, es riechen und
den Herzschlag der Beteiligten hören.


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Jakob und Elsie beim Dorffest


Eine starke Erzählung voll Lebenskraft


«Jakobs Ross» ist ein Drama erster Güte. Er basiert auf dem gleichnamigen, 2014
erschienenen hochgelobten Debütroman der Zürcher Schriftstellerin Silvia Tschui. Katalin
Gödrös nimmt uns im Film mit ins 19. Jahrhundert, wo die einfachen Mädchen Mägde und
die armen Buben Knechte waren. Die junge Elsie (Luna Wedler) schruppt im Haus des
Direktors auf den Knien die Holzböden und kann nicht anders als dabei zu singen, was
verboten wird. Bis Sophie, die Fabrikantentochter, musikalisch gebildet und eine gute
Geigerin, das Potenzial von Elsie erkennt und für sie ein Stipendium erwirken will. Doch bald
geht sie wieder Richtung Süden, Elsie bleibt zurück. Von einem Stipendium ist keine Rede
mehr. Denn sie wurde, als der Hausherr sie mehrmals vergewaltigte, schwanger und musste
möglichst schnell mit seinem Knecht Jakob (Valentin Postlmayr) zwangsverheiratet werden.
Dieser ist ein anständiger Kerl, der von nichts anderem als von einem eigenen Ross und
einer Kutsche träumt.


Zusammen verlässt das Paar mit einer Kuh das Anwesen in Richtung Alpen, wo sie in einem
zerfallenen Rustico hausen und mit nichts ein neues Leben aufzubauen versuchen. Nur das
Singen hat Elsie mitgenommen, singt überall, auch in der Kirche, was für Ärger sorgt. In ihrer
Not als unfreiwillig Schwangere hilft ihr eine Frau, mit Hausmittelchen abzutreiben, was
Jakob wiederum wütend macht, weil er mit dem Kind den Direktor hätte erpressen wollen.
Etwas später kommen Fahrende ins Dorf, darunter der junge Ricco (Max Hubacher), der
Handörgeli spielt. Elsie begleitet ihn singend. Sie werden Freunde und bald Liebende, was
für neue Dynamik sorgt. Eigentlich möchte sie mit der Truppe mitziehen, in die weite Welt
hinaus, weg von ihrem armseligen Leben. Doch einige Bauern bekommen Wind von der
Freundschaft mit dem Fahrenden und gehen brutal auf ihn los.


«Jakobs Ross» ist ein starker, zuweilen heftiger Film, versehen mit allen Ingredienzen, die es
für dieses Drama braucht. Katalin Gödrös und ihr Kameramann Sebastian Edschmid
zeichnet die Figuren glaubwürdig und einfühlsam. Das grosse Potenzial der Protagonistin ist
immer und überall zu sehen: Die 24-jährige Luna Wedler («Amateur Teens», «Blue My
Mind», «Je suis Karl») kann nicht nur wunderbar singen, sie beherrscht auch die Mimik, die
für diesen eher wortkargen Film nötig ist. Mit ihr als Elsie und Max Hubacher als Ricco ist der
Film mit zwei Schweizer Stars besetzt, während der Österreicher Valentin Postlmayr als
Jakob verblüfft, wie er für seine Rolle eigens das altertümliche Schweizerdeutsch gelernt hat.


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Elsie und Ricco beim ersten Treffen

Musik, die ins Herzen trifft

 

Elsie wünscht sich nichts sehnlicher als ein Leben mit Musik, will singen und Handorgel
spielen. Doch dieser Wunsch steht im Kontrast zu ihrem Leben als Magd im Herrschaftshaus
und als Bäuerin auf der ärmlichen Pacht. In einer Umgebung, in der kaum gesprochen wird,
wo es nicht üblich ist, seine Gefühle in Worten auszudrücken, ist ihre Stimme ein Wunder,
die berührt, dem Innern hörbaren Ausdruck leiht. Ihre Musik wurzelt in der Volksmusik, einer
archaischen Urstimme, die durch Natürlichkeit und Rohheit berührt. Eindrücklich ist auch die
Tanzmusik, mit der die Jenischen im Dorf auftreten; vor allem Riccos Musik wirkt auf Elsie
anziehend, inspirierend und heilend.


«Jakobs Ross» entführt durch seinen Reichtum: archaisch und modern zugleich, ein intimes
Kammerspiel und kritisches Historiengemälde, eingebettet in eindrucksvollen Landschaften.
Die Konflikte zwischen den Eheleuten und ihre Kämpfe um die Selbstverwirklichung, waren
ein Thema, und sind es noch heute.


Dieser Film hat die Kraft, das Private und Intime der Beziehungen liebevoll und realistisch
und gleichzeitig das Allgemeingültige in der Gesellschaft und Politik zu beschreiben und uns
wie in einem Spiegel hinzuhalten. Mit diesem doppelten Wert fasziniert Katalin Gödrös’
neuestes Werk still und unaufdringlich, drängend und nachhaltig.

Regie: Katalin Gödrös, Produktion: 2023, Länge: 103 min, Verleih: Ascot-Elite