Köpek

Ein gewöhnlicher Tag in Istanbul: Drei Menschen auf der Suche nach Liebe. Die türkisch-schweizerische Regisseurin Esen Isik malt mit dem Film «Köpek» ein Sittengemälde ihrer Heimatstadt, das betroffen macht und zum Denken anregt.
Köpek

Der Film ist der italienischen Künstlerin Pippa Bacca gewidmet

In Erinnerung an den 10. Dezember 1948, als die UNO-Generalversammlung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte den Grundstein für den internationalen Schutz der Menschenrechte gelegt hat, wird seither jährlich der Menschenrechtstag begangen. Vom 9. bis 13. Dezember 2015 findet im Kino Riffraff und im Filmpodium Zürich das «Human Rights Film Festival Zurich» statt. In diesem Rahmen wird «Köpek» zusammen mit einem Dutzend weiterer Filme zum Thema gezeigt und von Podiumsgesprächen mit Filmemachern und Experten ergänzt.

Der zehnjährige Cemo verkauft verbotenerweise auf der Strasse Papiertaschentücher, um seine Familie zu unterstützen. Auf seinen Streifzügen beobachtet er in einem besseren Quartier ein gleichaltriges Mädchen, in das er sich verliebt. Mit ihr versucht er, einen verlassenen Welpen zu retten. Ob ihm das trotz Polizeigewalt gelingen wird? Hayat wird von ihrem eifersüchtigen Ehemann terrorisiert. Als ihr ehemaliger Verlobter in die Stadt kommt, verabreden sie sich zu einem heimlichen Treffen. Gefangen in ihrer Rolle als Ehefrau, kann sie sich ihm jedoch nicht öffnen. Wird sie es schaffen, sich von ihrem gewalttätigen Ehemann zu lösen? Die transsexuelle Ebru muss sich prostituieren, um über die Runden zu kommen. Sie führt eine heimliche Beziehung mit einem gut situierten Apotheker, der sich aber nicht öffentlich zu ihr bekennen will. Wird es ihr gelingen, seine Bedenken zu zerstreuen?

Der Spielfilm «Köpek» von Esen Isik verbindet drei Einzelschicksale zu einer universellen Tragödie, erfüllt von Gewalt gegen Frauen und Kinder, aber auch der tiefen Sehnsucht nach Liebe. Ein Film, der berührt und schmerzt, doch nie selbstzweckhaft brutal ist, sondern stets das Ziel verfolgt, von der persönlichen Betroffenheit zur politischen Verantwortung zu führen.

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Cemo und seine Freundin versuchen, einen Welpen zu retten

«Köpek»: ein Sittengemälde und das Bild einer besonderen conditio humana

Authentisch, mit Augenblicken voll Zärtlichkeit, aber auch mit Szenen brutaler Alltagsgewalt, erzählt «Köpek», kunstvoll ineinander verwoben, drei Geschichten von Liebe und Tod in der türkischen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts und beleuchtet die Rolle der Opfer, der Täter und der Zeugen. Grossartig inszeniert, meisterhaft gespielt, kommen die Menschen uns nahe, ganz nahe.

Esen Isik wurde 1969 in Istanbul geboren, besuchte dort das Gymnasium, arbeitete an einem Jugendtheater und studierte von 1992 bis 1997 an der Zürcher Hochschule der Künste im Fachbereich Film/Video. Ihr Abschlussfilm wurde als beste Diplomarbeit des Jahrgangs ausgezeichnet, sie erhielt dafür den Nachwuchspreis der Kulturstiftung Suissimage. Mit ihrem nächsten Kurzfilm gewann sie den Schweizer Kurzfilmpreis, wurde anschliessend mit «Reise ohne Rückkehr» mit dem Zürcher Filmpreis ausgezeichnet und erhielt 2012 mit «Du & ich» erneut den Schweizer Kurzfilmpreis. Was Isik bei ihren Kurzfilmen gelernt und erprobt hatte, konnte sie bei «Köpek», ihrem ersten Langspielfilm, in perfekter Weise anwenden.

Der Film kommt zur rechten Zeit in die Kinos. Denn gerade in diesen Monaten ist die Türkei auf dem Weg, eine Autokratie oder eine Diktatur, ein Gottesstaat oder ein Sultanat zu werden. Aktuell gelingt es Präsident Erdogan und Ministerpräsident Davutoglu zwar noch, durch geschickte Diplomatie und raffinierte Medienmanipulation diese Entwicklung vor der Weltöffentlichkeit zu verschleiern. Doch wie lange? Ein Film wie «Köpek» erhält so das Verdienst, für die Türkei und für Europa die notwendige «Gegenöffentlichkeit» (Kluge/Negt) zu schaffen. Darüber hinaus, dass der Film gesellschaftliche Aufklärung leistet, ist er ein grossartiges, wenn auch erschütterndes Bild einer besonderen conditio humana, der Bedingtheit des Menschseins: eines nicht gelebten Lebens, einer nicht gelebten Liebe.

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Im Geheimen trifft Hayat ihre erste Liebe

Esen Isik und die Hunde von Istanbul – Aus einem Essay von Mark Schwyter

«“Köpek“ heisst Esen Isiks neuester Film. Köpek, der Hund. Denn mit einem Hund hat in gewisser Weise alles angefangen. Mit einem Strassenhund, einem der unzähligen sich selbst überlassenen Hunde Istanbuls. Eines Tages wird Isik unterwegs in der Stadt Zeugin eines Unfalls. Ein Hund wird von einem Auto angefahren und bleibt tot am Strassenrand liegen. Ein gewaltsamer Tod, so alltäglich, dass Isik, wie alle anderen Passanten, kaum Notiz davon nimmt. Doch dann sieht sie den Welpen neben der toten Mutter. Die Not des hilflosen Tieres rührt ihr Herz und sie verlangsamt ihren Schritt. Soll sie eingreifen und dem Kleinen zu Hilfe kommen? Sie lässt es bleiben und setzt ihren Weg fort. Aber das Schicksal des kleinen Hundes lässt ihr keine Ruhe. Später am Tag geht sie den Weg zurück, sucht den Hund, findet ihn nicht. Dass sie ihrem ersten Impuls nicht gefolgt ist, dass sie Zuschauerin blieb und nicht aktiv wurde, macht ihr noch lange zu schaffen.

Fortan schreitet sie beherzter ein. Rettet den einen oder anderen Hund von der Strasse und bringt ihn zu ihrer Mutter. Doch selbst wenn sie ihr ein Dutzend Hunde bringen könnte, für die Strassenhunde von Istanbul wäre es nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Esen Isik weiss, um das Elend der Hunde von Istanbul etwas zu ändern, reicht persönliches Mitgefühl allein nicht aus, es braucht einen politischen Willen. Doch die Hunde von Istanbul haben keine Stimme und keine Lobby, die sich für sie einsetzen würde.»

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Ebru sucht Anerkennung und Liebe

Fortsetzung: Von der persönlichen Betroffenheit zur politischen Verantwortung

«Esen Isik wächst in Istanbul auf. Als Kurdin, als Frau, als politisch wacher Mensch ist sie gleich mehrfach betroffen von Ungleichheit und Unrecht. Sie ist noch im Gymnasium, als sie nach dem Militärputsch von 1984 erstmals an einer Demonstration für die Rechte von Frauen und Homosexuellen teilnimmt. Im Jahr, in dem sie die Aufnahmeprüfung an die Filmakademie besteht, wird sie beim Verteilen von Flugblättern verhaftet und für ein halbes Jahr ins Gefängnis gesteckt. Der Prozess endet 1995 mit einem Freispruch. Als Verlobte eines Türken mit Niederlassungsbewilligung kann sie 1990 in die Schweiz einreisen. Als die Ehe zwei Jahre später geschieden wird, muss sie das Land verlassen. Sie legt Berufung ein, denn sie hat die Aufnahmeprüfungen für die Filmklasse der ZHdK bestanden und will in der Schweiz bleiben. Ihr Rekurs wird abgelehnt, doch die Schule hält zu ihr, und sie studiert als Illegale weiter. Ihre Erfahrung verdichtet sie in ihrem Diplomfilm «Sich zum Sterben hinlegen». Der Film handelt von der Verletzbarkeit von ausländischen Frauen, denen bei einer Trennung automatisch die Ausschaffung droht. Der Film wird im Parlament gezeigt und trägt zu einer Gesetzesänderung zum Schutz der Frauen bei.

Ihren jüngsten Film widmet Esen Isik der italienischen Künstlerin Pippa Bacca. Diese unternahm 2008 im weissen Hochzeitskleid einen Friedensmarsch von Rom nach Palästina. In Istanbul wurde sie vergewaltigt und umgebracht. Durchschnittlich werden in der 17-Millionen-Metropole jeden Tag zwei Frauen getötet, oftmals von ihren Ehemännern, vielfach ohne dass die Täter verfolgt oder bestraft werden. Aus der ursprünglichen Absicht, die Geschichte von Pippa Bacca zu erzählen, ist die Idee entstanden, einen Film über Unrecht und Gewalt zu machen.»

Schweizerische Männerzeitung, September 2015, www.maennerzeitung.ch

Regie: Esen Isik, Produktion: 2015, Länge: 100 min, Verleih: cineworx