L'Apollon de Gaza

Archäologie als Politik: Am Beispiel eines angeblich archäologischen Fundes zeigt Nicolas Wadimoff mit «L'Apollon de Gaza» unterhaltsam und entlarvend das Chaos und die Absurditäten in Israel/Palästina auf. – Ab 5. Dezember im Kino
L'Apollon de Gaza

Um der komplexen Realität in Israel/Palästina gerecht zu werden, ergänze ich die Beschreibung des Films «L'Apollon de Gaza» mit einer Vorgeschichte, einem verwandten Fall. Diesen früheren, ebenfalls angeblich archäologischen Fund, hat Béatrice Guelpa 2011 in ihrem Buch «Aphrodite in Gaza» beschrieben.

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Vielleicht haben diese Fischer den Apollo gefunden

Die Vorgeschichte mit Aphrodite


Zu Beginn der Lektüre erscheint einem das Buch von Guelpa etwas kurios und abgehoben. Da entdeckt ein Bauunternehmer ausserordentliche archäologische Schätze: eine Aphrodite und weitere wertvolle Werke aus dem 4. bis 2. Jahrhundert vor Christus. Diese zeugen von einer blühenden Hochkultur in der im Altertum bedeutenden Stadt Gaza. Jawdat Khudary, so sein Name, entwickelt sich zum Sammler und Hobbyarchäologen. Mit seinem Einsatz will er die lokale Kunst für die künftigen Generationen seines Volkes erhalten und dafür in Gaza ein Museum bauen und im Ausland Ausstellungen organisieren. Doch da gibt es Schwierigkeiten mit der Besatzungsmacht. Eine schweizerische Organisation erschafft mit Unterstützung von Bundesrätin Calmy-Rey eine Plattform und organisiert in Genf eine Ausstellung, zu deren Eröffnung auch Mahmud Abbas anreist. Doch dann verbietet Israel die Wiedereinfuhr der Werke, weshalb sie noch heute in einem Schweizer Zollfreilager liegen sollen. Interessant und nicht mehr abgehoben wirkt das Buch schon nach wenigen Kapiteln, denn die archäologische Recherche wandelt sich schnell zur politischen Untersuchung.

Das Buch stellt ein Dokument des Aufbäumens der Menschen im Gazastreifen dar, gegen die Besatzer, die den Palästinensern seit 1948 systematisch Land entreissen, mit der Umbenennung von Ortschaften ihnen ihre Sprache rauben und nun auch noch versuchen, dem besetzten Volk seine Geschichte zu vernichten.

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Die Hauptgeschichte mit Apollo

Zum Film «L'Apollon de Gaza» des Genfer Regisseurs Nicolas Wadimoff und seiner Mitarbeiterin Béatrice Guelpa (siehe oben): Im Jahr 2013 wird eine Statue von Apollo im Meer vor Gaza gefunden. Doch bald verschwindet diese unter seltsamen Umständen, und es verbreiten sich Gerüchte um diesen begehrten Schatz. Vordergründig kommt der Film wie ein Krimi über die Erforschung des angeblichen Fundes daher. Indirekt stellt er jedoch einen wertvollen Beitrag dar zur Geschichte und zum gegenwärtigen Zustand im Land, wo die Menschen rebellieren, dulden oder resignieren.

Wadimoff holt für «L'Apollon de Gaza» die Schlüsselfiguren des Ereignisses vor die Kamera: einen Fischer, Archäologen und Hobbyarchäologen, Historiker, Kuratoren, Goldschmiede, Kunsthändler, Geistliche und Regierungsmitglieder. Er legt ein Mysterium mit unendlich komplexen Verzweigungen frei. Vordergründig untersucht er das Geheimnis der Statue, hintergründig verschafft er uns Einblicke in ein Land, in dem alles Politische religiös und alles Religiöse politisch ist. In diesem Konglomerat aus Wahrheit und Lüge, Vermutungen und Behauptungen verstecken sich weiterführende Hinweise eher im schelmischen Lächeln, im ausweichenden Schweigen, im indirekt Angedeuteten als in den konkreten Worten der Sprechenden. Vor der Kamera des Genfer Regisseurs wird zunehmend deutlich, welche konkreten Interessen die Statue symbolisiert.

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Schlussfolgerung


Verbindet man die beiden Ereignisse, das Buch über Aphrodite und den Film über Apollo, so wird es erst richtig spannend und unterhaltsam. Denn die Gesamtschau weist weit über die archäologischen Funde hinaus. 2011 ging es vordergründig um Aphrodite, die Göttin der Liebe, der Schönheit und der sinnlichen Begierde, 2013 um Apollo, den Gott der Künste, der Poesie, der Schönheit und des Orakels. Doch alles zusammen betrachtet, geht es um mehr.

In der Buchbesprechung, die ich damals nach mehreren Reisen durch Palästina und Israel geschrieben habe, heisst es: Der Autorin Béatrice Guelpa gelingt es, am Beispiel dieses Kultur-Events die Geschichte Gazas während des letzten Jahrzehnts persönlich und informativ, poetisch und schonungslos aufzurollen: 2004 werden unter Ariel Sharon 9000 israelische Siedler evakuiert. 2006 finden die palästinensischen Wahlen mit einem Sieg der Hamas statt. Im gleichen Jahr wird das Museum eröffnet und überlebt, wenn auch beschädigt, die Operation «Gegossenes Blei», bei welcher in drei Wochen 1330 Menschen, darunter 437 Kinder, zu Tode kamen.

Zum Film schreibt Thomas Gerber, dem ich hier folge: «Hinter der kurz aufblitzenden Erscheinung des antiken Apollo tut sich nicht nur die Frage der Macht im Gazastreifen auf, sondern auch die Frage eines Volkes, welches sich geduldig an das Versprechen einer neuen Kultur klammert, die durch eine Gründungsgeschichte konstituiert und legitimiert wäre. Der Filmemacher gibt nicht vor, Unlösbares zu lösen oder Wahres von Falschem zu unterscheiden ‒ sein Blick bleibt respektvoll und diskret auf die Totalität des unheiligen Heiligen Landes» gerichtet.

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... Experten noch und noch

Ein Palaver


Zusammenfassend empfiehlt es sich, das im Film Gesagte nicht wörtlich, sondern metaphorisch zu verstehen. Das über Apollo und Aphrodite Kommunizierte ist ein langes «Palaver», analog dem Terminus, mit dem Max Frisch sein Buch «Die Schweiz ohne Armee?» untertitelt hat: Palaver als wildes Geplauder, Gezänke, mit Behauptungen und Lügen, Vermuten und Verneinen, Verschweigen und Preisgeben, chaotisch und absurd. Die Film-Erzählung erweist sich als Meta-Erzählung, interessant und wertvoll, in hohem Masse aufgeklärt und aufklärend, doch nicht als trockene Theorie, sondern als arabische Poesie.

Es spricht für die Qualität von Nicolas Wadimoffs Schaffen, dass er bereits in seinem früheren Film über Gaza, «Aisheen – Still alive in Gaza», zu ähnlichen Schlüssen gekommen ist, damals noch mit leiser Hoffnung auf eine bessere Zukunft, heute mit einem Sich-Dreinschicken oder in Resignation. Angesichts der weltpolitischen Sicht auf den Nahen Osten, oder besser dem systematischen Wegschauen, ist wohl zu fürchten, dass noch weitere solche Filme und Bücher nötig werden, bis die übrige Welt die Absurdität und das Chaos, die hier herrschen, zur Kenntnis nimmt.

Titelbild: So unklar wie dieser Apollo ist das Gerede darüber

Regie: Nicolas Wadimoff, Produktion: 2019, Länge: 78 min, Verleih: Sister Distribution