Un homme qui crie

Auf den Strassen N'Djamenas ist es unruhig, da nimmt sich die heile Welt am Hotelpool wie eine friedvolle Insel aus.

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Vater Adam und Sohn Abdel raufen sich spielerisch im Wasser, man spürt eine innige Verbindung zwischen den beiden. Die Tage plätschern dahin, die drückende Sonne gibt den Rhythmus vor, gemächlich verrichten Vater und Sohn die Arbeit am Pool. Erst am Abend, wenn sich die beiden auf den Weg nach Hause machen, wird klar, dass die Lage im Land alles andere als friedlich ist. Der Krieg im Nachbarland Sudan ist auch bei ihnen im Alltag spürbar: Immer mehr Menschen werden in die Kämpfe hineingezogen, man hört von Plünderungen in der Grenzregion, Waffen werden verschoben. Reiter- und andere Milizen operieren aus dem Grenzgebiet heraus gegen die Regierung. Bald herrscht Kriegs- und Ausnahmezustand. Die Armee rekrutiert junge Männer. Vermehrt wird Adam vom Quartiervorsteher aufgesucht und daran erinnert, dass von den Bürgern nun ein aktiver Beitrag gefordert ist, und wer kein Geld hat, kann einen Sohn in den Krieg schicken.

Adam weicht aus und wird dadurch immer mehr in die Enge getrieben. Die Lage spitzt sich dramatisch zu, als auch seine Arbeitswelt zu bröckeln beginnt. Das Hotel hat den Besitzer gewechselt und die neue Chefin aus China macht ihm schnell klar, dass zwei Männer am Pool nicht rentieren. Er muss künftig mit der Stelle als Parkwächter vorliebnehmen, derweil sein kraftstrotzender Sohn zum Chefbademeister aufsteigt, Benutzung des Seitenwagens inklusive. Diese neue Situation setzt Adam zu. Da scheint ihm die Möglichkeit, dass Abdel durch eine Teilnahme am Krieg nicht nur ein sicheres Einkommen hätte, sondern auch Ruf und Ehre der Familie verteidigen könnte, plötzlich ein geeigneter Ausweg. Abdel wird sogleich eingezogen und Adam wieder als Bademeister gebraucht. Als die schwangere Freundin Abdels bei ihren künftigen Schwiegereltern auftaucht und Unterschlupf sucht, wird Adam das Ausmass der Tragödie, in die er geschlittert ist, erst richtig bewusst.

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Der Regisseur Mahamat-Saleh Haroun

Mahamat-Saleh Haroun wurde 1961 in Abéché, Tschad, geboren. Wegen des Bürgerkriegs flieht er nach Kamerun, 1982 geht er nach Frankreich, wo er bis 1986 am Conservatoire Libre du Cinéma Français in Paris studiert. Später bildet er sich in Bordeaux zum Journalisten aus, einem Beruf, den er einige Jahre ausübt, bevor er 1994 wieder zu seiner ersten Liebe zurückkehrt. Mit «Maral Tanié» realisiert er 1994 seinen ersten Kurzfilm. Nach weiteren Kurz- und Dokumentarfilmen dreht er 1999 mit «Bye Bye Africa» seinen ersten Langfilm, dem 2002 der vielfach ausgezeichnete «Abouna» folgt. Harouns letzter Spielfilm «Daratt» lief 2006 an den Filmfestspielen in Venedig und wurde mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. Mit «Un homme qui crie» war Haroun am Filmfestival Cannes im offiziellen Wettbewerb vertreten und erhielt den renommierten Jurypreis.

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… und sein Kommentar zum Film

«Un homme qui crie» ist kein Film über den Krieg, sondern über jene, die ihn erleiden und die das Gefühl haben, ihnen entgleite ihr eigenes Schicksal. Ich weiss davon zu berichten, weil ich selber ein Überlebender des Bürgerkriegs im Tschad bin. 1980 wurde ich schwer verletzt, musste mein Land auf einem Schubkarren verlassen, um ins benachbarte Kamerun zu flüchten. 26 Jahre später, als ich meinen Spielfilm «Daratt» drehte, fielen Rebellen in N'Djamena ein. Die Kämpfe wurden mit schwerem Geschütz geführt und dauerten sechs Stunden. Es gab 300 Tote, im Februar 2008 nochmals das Gleiche: Die Rebellen fielen neuerlich und gleichenorts ein, als ich dabei war, den Kurzfilm «Expectations» zu drehen. Der Krieg ist im Tschad prägend. Die endemische Gewalt hat in der Bevölkerung ein tiefes Trauma verursacht. In diesem angespannten und instabilen Umfeld, wo auch im Film der Krieg seine bedrohliche Fratze zeigt und zudem das Hotel privatisiert wird, muss Adam überleben. Während alles um ihn herum zu wanken beginnt, bleibt der Pool das Einzige, an das sich Adam klammern kann wie an einen Rettungsring. Das stille, ruhige Wasser wird für ihn zu einem Zufluchtsort, an dem er das Gefühl hat, sein Leben unter Kontrolle zu haben und nicht unterzugehen. Es ist dieses Klima der Angst gegenüber der Zukunft, das der Regisseur im Film zu erfassen versuchte. Wenn man die Welt um sich herum einstürzen sieht, wenn die Fixpunkte sich auflösen, wenn der politische und soziale Druck zu stark wird, verliert man den Boden unter den Füssen. Das ist es, was Adam widerfährt. Nachdem er das Unverzeihliche getan hat, möchte er seinen Fehler schnell wieder gutmachen, sein Ansehen wieder herstellen. Aber es wird ihm schmerzhaft bewusst, dass dem Schrei seines Leidens nur das Schweigen Gottes antwortet. Er weiss, dass es für ihn keine Erlösung gibt und er nie Frieden finden wird.

Geschickt verbindet der Regisseur in seinem neuen Film den Krieg mit dem Thema Kapitalismus und Globalisierung, welche sich hier in der Ausbeutung der Angestellten, als eine Vorform des Krieges, zeigt. Auch die sogenannte freie Marktwirtschaft schafft Gewinner und Verlierer, Sieger und Besiegte – letztlich Verletzte und Tote. Erzählt wird uns diese Geschichte von Haroun in einfachen, alltäglichen Worten und schlichten, eindrücklichen Bildern.

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Aus einem Gespräch mit dem Filmemacher

Wann ist das Projekt «Un homme qui crie» entstanden?

Am Ursprung steht der Bürgerkrieg, der seit Jahrzehnten im Tschad herrscht. Die Geschichte des Films begann 2006, während den Dreharbeiten zu «Daratt», als die Rebellen in N'Djaména einfielen: Das Filmteam erlebte den Vormarsch live am Radio. 2008 drehte ich den Kurzfilm «Expectations» im Tschad. Wiederum erlebten wir einen Vorstoss von Rebellen: Das Filmteam war gelähmt und sehr verängstigt. Danach wollte ich von diesen Menschen erzählen, die in der Falle des Krieges gefangen waren.

Obschon der Krieg allgegenwärtig ist, bleibt er im Film im Hintergrund.

Ja, er ist wie ein Wind, der von Zeit zu Zeit bläst und sich wieder zurückzieht: Nach dem Belieben seiner Bewegungen verseucht er den Ablauf der Erzählung. Er wird so dargestellt, weil das tatsächlich der Realität im Tschad entspricht. Dieser Krieg ist wie ein Geist, der die Ortschaften heimsucht und von Zeit zu Zeit sein Gesicht zeigt.

Agieren die Gesandten der Regierung, insbesondere der Quartiersvorsteher, tatsächlich wie Ganoven?

Das ist so. Es ist kein institutioneller Konflikt: Es gibt Kriegsführer, und jeder versucht, von der Situation zu profitieren. Der Quartiersvorsteher, der als Repräsentant der Ordnung gilt, erpresst die Menschen und zwingt sie zu Fehlern, bis er merkt, dass eine wirkliche Gefahr besteht. Alle diese «Offiziellen» spielen Poker: Sobald sie spüren, dass sich das Blatt zu ihrem Nachteil wenden könnte, versuchen sie schleunigst, das Feld zu wechseln.

Würden Sie die Globalisierung, die im Herzen Afrikas einschlägt, auch als Form der Gewalt sehen?

Diese ist umso gewalthaltiger, als das Arbeitsrecht im Tschad oft mit den Füssen getreten wird: Es gibt also nichts zu tun. Ich mag diesen Satz vom Koch David im Film: «David kann gegen Goliath nichts ausrichten.» Der Satz passt gut zu dieser Geschichte. Neben dem Krieg und seiner Bedrohung ist es diese Gewalt, die den Männern zugefügt wird, welche Adam nach und nach einschliesst: Ich musste zeigen, wie jener völlig den Boden unter den Füssen verliert, und wie ein Mann, an sein Ende getrieben und entblösst, dazu gebracht werden kann, das Unverzeihliche zu begehen.

Die Figur Adams erinnert an Hiob aus der Bibel.

Religiöse Fragen haben mich schon immer beschäftigt, denn ich glaube, dass die Religionen stets an der Quelle stehen. Neben Hiob gibt es im Islam auch die Geschichte von Ibrahim (Abraham), an den Adam erinnert: Ibrahim möchte seinen Sohn opfern, aber Gott rettet den Sohn im letzten Moment. Doch für Adam sind die Dinge anders: Er glaubt nicht an eine göttliche Intervention. Daher auch die Verbitterung, als er seiner Frau sagt: «Vom Himmel haben wir nichts zu erwarten.» Ich wollte die mythologischen Erzählungen an eine aktuellere Realität heranführen. Da zögern die so genannten «Väter» (die politischen Führer) in Afrika nicht, ihre «Kinder» (das Volk) zu opfern.

Die Vater/Sohn-Beziehung scheint all Ihre Filme zu durchziehen. Ist sie Ihnen besonders wichtig?

Die Frage der Abstammung ist mir sehr wichtig: Was muss man tun, damit die Werte von einer Generation an die nächste weitergegeben werden? Wie ist es zu erklären, dass diese Weitergabe nicht richtig funktioniert und der Sohn zu jemand anderem wird? Weshalb geschehen Brüche in dieser Kette? Ich denke, dass sich diese Fragen im Herzen jeder Gesellschaft befinden.

Wie ist es mit dem Konflikt zwischen der westlichen Einstellung Abdels und den Traditionen der Familie?

Ich habe das Gefühl, dass die Tradition Hand in Hand mit der Moderne gehen kann. Das zeigt die Szene am Familientisch: Man befindet sich in einer Form von Tradition, da der Sohn seinen Vater mit viel Respekt behandelt, aber er ist gleichzeitig an einem andern Ort, da er seine eigene Identität hat. Khalil Gibran sagte das sehr schön: «Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch.» Es ist zweifelsohne leidvoll zu spüren, dass einem das eigene Blut in gewisser Hinsicht entrinnt und sich entfernt, aber das ist unvermeidlich.

Es ist auch ein Film über den Stolz und den Sinn der Ehre: Adam erträgt es nicht, herabgesetzt zu werden.

Er fühlt sich degradiert. Als er Schrankenwärter wird und sich beeilt, ein Auto in den Hotelkomplex hineinzulassen, stehen wir im Zentrum seiner Erniedrigung: Er, der zuvor über eine grosse Würde verfügte, wirkt plötzlich lächerlich. Aber für mich ist es nicht so sehr Adam, der lächerlich wird, sondern die Person, die zu spielen er gedrängt wird. Diese Erniedrigung in aller Öffentlichkeit ist so stark, dass er sie nicht ertragen kann. Das stimmt umso mehr, als dass man in der heutigen Welt nur noch durch seinen sozialen Status existiert. Verliert man diesen Status, verliert man praktisch seine soziale Identität.

www.trigon-film.org