Black Dog
«Black Dog» kann man auch als eine umfassende Parabel über das Miteinander von Mensch und Tier verstehen. Oder als empathisch erlebtes Drama der Armen unter der Staatsgewalt. Oder als Geschichte, wenn der Mensch einen Ort verlässt und die Natur das Territorium zurückholt.
Guan Hu, 1967 in Peking geboren, gehört zu den erfolgreichsten chinesischen Regisseuren der Gegenwart und wird zur sechsten Generation des chinesischen Kinos gezählt. «The 800» brach sämtliche Rekorde und wurde 2020 zum kommerziell erfolgreichsten Kinofilm. Nun legt er in einem perfekten Neo-Western die Kluft zwischen Propaganda und Wirklichkeit im Reich der Mitte frei. «Black Dog» wurde in Cannes mit dem Prix «Un Certain Regard» ausgezeichnet.
Einsamkeit auf Cinemascope-Tableaux
Irgendwo in der Wüste Gobi: Ein Bus fährt durch die raue Landschaft, Staub wirbelt auf, der Wind peitscht durch die Ebene. Plötzlich stürmt ein Rudel wilder Hunde den Hügel hinab auf die Strasse, auf welcher sich der Bus nähert. Dieser schwenkt aus, kippt und kommt zum Liegen. Die Mitfahrenden bleiben unversehrt. Einer unter ihnen ist der früher für seine Rockmusik und Motocrossstunts berühmte Lang Yonghui, grossartig gespielt vom chinesisch-kanadischen Star Eddie Peng. Nach zehn Jahren im Gefängnis kommt er in seine Heimatstadt Chixia zurück. Doch die Provinzstadt hat sich während seiner Abwesenheit verändert: Viele Gebäude stehen leer, wilde Hunde streunen durch die verlassenen Strassen, Angst vor Tollwut macht die Runde. Vom Wohlstand, den der Kohlebergbau einst ins Städtchen gebracht hat, ist nicht mehr viel zu sehen. Lang war in den Mord am Neffen des Schlangenzüchters und Gangsterbosses Hu verwickelt, sucht jetzt aber einen Neuanfang. In der alten Welt, die jedoch selbst vor dem Untergang steht, obwohl überall und offiziell Aufbau und Fortschritt herbeigejubelt werden.
Umrahmt von Sonnenfinsternis und Olympiade
Wir schreiben das Jahr 2008, die Olympischen Sommerspiele in Beijing stehen vor der Tür, ebenso eine Sonnenfinsternis, wie es sie erst in dreissig Jahre wieder geben wird. Um sich auf den sportlichen Grossanlass vorzubereiten, beschliessen die Behörden, gegen die wachsende Zahl herrenloser Hunde vorzugehen. Der Restaurantbesitzer und der Korruption nicht abgeneigte Gangleader Yao organisiert eine Hundepatrouille, welche die Streuner einfangen soll. Er lädt auch den wortkargen Lang als Teil seiner Rehabilitation und Reintegration dazu ein.
Als Lang dem besonders gefürchteten schwarzen Hund, einem Hwippet, begegnet, der sich durch Anhänglichkeit und Intelligenz auszeichnet, auf den die Behörden ein Kopfgeld ausgesetzt haben, entwickelt sich zwischen den beiden schweigenden Aussenseitern langsam eine Freundschaft. Die zwei Eigenbrötler sind beide auf ihre Art von der Gesellschaft verstossen und finden im anderen einen treuen Gefährten.
Aus einem Interview mit Guan Hu
trigon-magazin N°103, von Meret Ruggle
Wie kam es zum Film «Black Dog»? Der Film ist das Resultat meiner persönlichen Beobachtungen und ich spüre darin den Veränderungen der letzten zwanzig Jahre nach, mit ihren positiven und negativen Auswirkungen auf die Menschen. Da ich in China lebe, habe ich die enorme Entwicklung des Landes in den letzten Jahrzehnten miterlebt. Ich war schon immer neugierig darauf, wie das Leben ausserhalb der grossen Städte und in den entlegenen Regionen meines Landes in dieser rasanten Entwicklungsphase aussieht. Zwangsläufig gibt es Menschen, die dabei zurückgelassen oder verdrängt wurden. Was aber treibt sie als Einzelne an und hilft ihnen, zu überleben? Meine Auseinandersetzung mit diesen Menschen hat mich zu diesem Film inspiriert.
Zwei Einsame finden sich! Lang wurde von der Gesellschaft an den Rand gedrängt. Ebenso der Hund, den er trifft. Beide wurden ausgesetzt. Kann man sagen, dass sie Spiegelbild des jeweils anderen sind? Sie sind zwei einsame, verlassene Seelen, die sich entscheiden, einander Halt zu geben. ̶ Es gibt eine alte chinesische Legende, die die Geschichte der Gottheit Erlang erzählt. Erlang wird oft mit einem mageren Jagdhund an seiner Seite dargestellt, der seine Einsamkeit auf seinen Streifzügen durch den Himmel lindert. In Anlehnung daran habe ich meinen Helden Lang genannt.
Es gibt eine sehr einprägsame Szene in «Black Dog», in der alle Menschen ihre Arbeit unterbrechen, um auf einem Hügel eine Sonnenfinsternis zu beobachten. Welche Bedeutung hat diese Szene? Tatsächlich ereignete sich 2008 im Nordwesten Chinas eine Sonnenfinsternis. Dies wurde damals als gutes Omen im Vorfeld der Olympischen Spiele angesehen. Ich wollte, dass auch in meinem Film Sonne und Mond gemeinsam leuchten. Dass Himmel und Erde eins werden. Als Ausdruck für die Veränderungen, die in Lang vor sich gehen. Er soll sie annehmen, nach aussen kehren und wieder auf eigenen Füssen stehen. Zur gleichen Zeit brechen die Tiere aus dem Zoo aus und streifen durch die verwahrloste Stadt. Die Sonnenfinsternis schafft für sie eine Art temporäre Freiheit ohne jegliche menschliche Einmischung. Ich sehe dies als die Verwirklichung von Langs Traum.
In seinem Roman «On the Road» schreibt der US-amerikanische Schriftsteller Jack Kerouac, dass die Menschen sich nach der Strasse sehnen, weil sie jung sind. Was motiviert Lang, sich auf den Weg zu machen, wieder aufzubrechen?
Der Lauf der Dinge und das immerwährende Bedürfnis treiben den noch jungen Lang an, seine eigene Würde als Mensch zu finden. Ein routiniertes, eintöniges Leben erdrückt ihn, sodass er wieder aufstehen und sich auf eine neue Reise begeben muss, bevor es ihn erstickt. Ich erinnere mich an Jack Kerouacs Worte: «Wir müssen gehen, und wir dürfen nie aufhören zu gehen, bis wir am Ziel sind.»
Weitere Deutungsansätze
Glück verortet Guan Hu in der zunehmend verlassenen Einöde und in der von Szene zu Szene wachsenden Beziehung von Menschen und Tieren. Dabei wird Gemeinschaft erst möglich. Unterstützt von Gao Weizhes Kamera und Breton Vivians Musik entsteht in «Black Doc» eine lakonische Kombination von Aussenseiterdrama und Western, verknüpft mit Elementen eines Roadmovies und subversiver Komik. Aktuelle Bezüge werden in den Häusern und Strassen, dem Zerfall von Chixia und am trostlosen Zoo sichtbar, konterkariert mit der Propaganda auf Plakaten und Sendungen im Rundfunk, die versuchen, der kommunistischen Diktator mit der aktuellen Olympiade Glanz und Glamour zu verleihen.
Ein kurzes Pfeifen, mit dem Lang mit seinem Hund kommuniziert, zitiert die Melodie des leitmotivischen Pink-Floyd-Songs «Mother», dem Lied einer überfürsorglichen Mutter, das uns die Assoziation zur unsichtbar allgegenwärtigen kommunistischen Partei naheliegt. Ähnlich diskret, indirekt und wohl nicht zufällig ist es, dass im ganzen Film nur wenige weibliche Figuren vorkommen. Eine ist Grape, eine aufgestellte Artistin in ihrem aus der Zeit gefallenen Zirkus. Sie steht in der kurzen Liebesszene mit Peng für einen Augenblick möglicher Resilienz. Doch auch diese endet, denn der Zirkus fährt weg.
Dass der schwarz Hund, der neben Peng die zweite Hauptrolle spielte, nach Cannes ans Festival mitgenommen und anschliessend von ihm privat adoptiert wurde, verrät etwas von der tiefen menschlichen und tierischen Freundschaft, welche die beiden in der Geschichte erlebten. Die braune Hündin bekam am Schluss ein Junges, das aus seinem Rucksack in die Welt hinausblickt