Lazzaro felice
Lazzaro, verkörpert von Adriano Tardiolo
Der Film hat noch gar nicht angefangen, da ruft es schon aus dem grillenzirpenden Schwarzbild «Lazzaro!» Man wird diesen Ruf in «Lazzaro felice» noch oft vernehmen, in den verschiedensten Klangfarben: laut, flüsternd, bittend, befehlend, ungeduldig und immer mit einem Auftrag oder einer Anweisung verbunden; Lazzaro tu dies, Lazzaro mach jenes, bring die Kisten rein, trag die Grossmutter ins Bett, fang das Huhn, halt nach dem Wolf Ausschau, nimm die Tabakpflanzen ab, mach Kaffee.
Lazzaro und Antonia
Lazzaro, die Hauptperson des Films von Alice Rohrwacher, ist so gutmütig und hilfsbereit, dass er nicht von dieser Welt zu sein scheint. Anfänglich lebt und arbeitet er zusammen mit anderen auf dem isoliert gelegenen Gutshof Inviolata. Die skrupellose Besitzerin Marchesa de Luna beherrscht alle auf ihrem Hof, auch ihren Sohn Tancredi. Als dieser Lazzaro um Hilfe bittet bei der Vortäuschung seiner eigenen Entführung, wächst zwischen den beiden jungen Männern eine Freundschaft. Sie wird die Zeit ebenso überdauern wie die Aufdeckung eines grossen Betrugs, der die Gemeinschaft von Inviolata auseinandersprengt und Lazzaro, auf der Suche nach Tancredi, in die ferne Stadt führt.
Alice Rohrwacher erweist sich mit «Lazzaro felice» erneut als herausragende Stimme des neuen italienischen Films. Ihr Opus wirkt wie ein wundersames Fundstück aus einer verschwundenen Ära des Kinos und ist dennoch aktuell. Ein Arbeiterfilm ist es und zugleich eine Heiligengeschichte, in der Form eines magischen Realismus und gleichzeitig der eines modernen Dramas, verschmolzen zu einer betörenden, mit Humor und Eleganz erzählten Zeitreise, angesiedelt zwischen der italienischen Agrargesellschaft und urbaner Gegenwart. Zauberhaft und beglückend! Es ist Kino der Poesie, wie Pasolinis Frühwerk, oder Kino der Träume wie Fellinis «La strada», oder auch wie ein Melodrama Bergmans. Und weiter ist es eine politische Utopie, wie jene von Erich Fromm, welche durch ihre bedingungslose Hingabe die Logik des Markes durchbricht, der auf Tausch basiert. Denn Lazzaro verlangt nichts. Der «glückliche Lazarus» scheint mir auch verwandt zu sein mit dem «glücklichen Sisyphos» von Albert Camus und auch mit dem Franz von Assisi des «Sonnengesangs».
Tancredi und Lazzaro in der heutigen Welt
Alice Rohrwacher zum Film ...
«"Lazzaro felice" ist die Geschichte eines unscheinbaren Heiligen, der keine Wunder vollbringt, der über keine besonderen Fähigkeiten verfügt, keine magischen Kräfte besitzt, eine Geschichte ohne Special Effects. Ein Heiliger, der in dieser Welt lebt und von niemandem etwas Böses denkt, der immer an die Menschen glaubt. Eine Geschichte, die von der Möglichkeit des Gutseins erzählt, die die Menschen immer ignoriert haben und die dennoch immer wieder auftaucht, um sie infrage zu stellen; wie etwas, das hätte sein können, aber was wir niemals gewollt haben. "Lazzaro felice" ist ein politisches Mani-Fest, ein Märchen über die Geschichte Italiens der letzten fünfzig Jahren, ein Lied.»
Marchesa Alfonsina de Luna und ihr Sohn
... die wirkliche Marchesa und der grosse Betrug
«Als Inspiration für den Film diente mir die wahre Geschichte einer Marchesa aus dem Zentrum Italiens, die die Abgeschiedenheit ihrer Ländereien nutzte, um ihren Bauern die Information über die Abschaffung der Naturalpacht vorzuenthalten. Als der italienische Staat 1982 alle noch bestehenden Halbpacht-Verträge in ordentliche Pacht- oder Lohnarbeitsverträge umwandelte, machte die Gräfin weiter, als sei nichts geschehen. Die Landarbeiter lebten noch einige Jahre in sklavenähnlichen Verhältnissen. Die Geschichte dieser Landarbeiter hat mich sehr berührt. Sie haben ihren Moment in der Geschichte verpasst, er wurde ihnen geraubt. Für die Öffentlichkeit war diese Geschichte eine Randnotiz, die am nächsten Tag schon wieder vergessen war. Bei den Bauern aber erinnert bis heute ein Zeitungsartikel an der Wand als vergilbter Beweis an eine zerbrochene Welt, die sie abgehängt hat. „I grande inganno – Der große Betrug!“»
Lazzaro mit Pepo in einer Vorstadt
... über Realismus und Märchen
«Mehr noch als in meinen bisherigen Filmen wollten wir bei "Lazzaro felice“ mit dem Genre des Märchens experimentieren, mit seinen Rätseln, Widersprüchen, wundersamen Begebenheiten, seinen guten und schlechten Figuren. Nicht im Sinne eines Gleichnisses oder einer Verheissung übermenschlicher und rätselhafter Abenteuer: Das Märchenhafte dient hier als Bindeglied zwischen der Realität und einer anderen Ebene der Wahrnehmung. Denn Symbole entspringen dem Leben, sie sind so vielschichtig und umfassend, dass sie für das Leben aller stehen können, für ein Land wie Italien und dessen Veränderung. Es geht um die immer gleiche Geschichte vom Neuanfang, vom Phönix aus der Asche, von der Unschuld, die uns trotz allem immer wieder begegnet und beschäftigt.»
Die Drehbuchautorin und Regisseurin Alice Rohrwacher
1981 wurde Alice Rohrwacher in Fiesole in der Toskana geboren. Nach ihrem Studium der Literatur und Philosophie an der Universität von Turin, machte sie ein Drehbuchstudium an der dortigen Scuola Holden. Nach ihren ersten Arbeiten als Theaterautorin und Musikerin wandte sie sich dem Film zu, zunächst vor allem dem Dokumentarfilm. 2011 drehte sie ihren ersten Spielfilm «Corpo celeste», 2014 folgte «Le Meraviglie». «Lazzaro felice», 2018, wurde, nach den vielen Auszeichnungen für die ersten Filme, mit der Palme für das beste Drehbuch auf dem Festival von Cannes und mit dem International Cinephile Society Award für die beste Regie ausgezeichnet.
Regie: Alice Rohrwacher, Produktion: 2018, Länge: 128 min, Verleih: Filmcoopi