In memoria: Richard Dindo
© rts
Ich versuche, mich an dich zu erinnern
In Klosters wandernd,
an einem strahlenden Wintertag,
neben Feriengästen: Pärchen, Familien, Einzelnen.
Links rauscht die Landquart,
rechts ziehen Langläufer ihre Bahnen,
von oben landen Gleitschirmflieger,
links blühen die ersten Weidenkätzchen.
Auf der Suche nach dir und deinen Filmen
Vor vielen Jahren fuhrst du,
als Büroangestellter und Autodidakt,
nach Paris,
hast den Pariser Mai erlebt
und wurdest ein zweites Mal geboren.
Ich bin traurig, dass du, Richard, nicht mehr lebst,
bin aber auch glücklich, dass du gelebt
und wichtige, schöne Filme gedreht hast
und jetzt in ihnen weiterlebst.
Allmählich werden Erinnerungen
an dich und einige deiner vierzig Filme wach.
Fragend, wartend
Wie zufällig fällt mir als erster Film «Dani, Michi, Renato & Max» ein:
über vier jungen Menschen,
von Polizeifahndern an den Strassenrand und in den Tod gedrängt.
Du hast die Geschichte recherchiert
und für die jungen Menschen ein Denkmal gesetzt:
aus der Ohnmacht gegen die Macht der Welt.
Wie Lava steigt in mir die Wut hoch
bei der «Erschiessung des Landesverräters Ernst S.»,
den du, fussend auf Niklaus Meienbergs Buch, gedreht hast:
deine, meine, unsere Wut und Anklage
gegen den Staat und die Justiz, entlarvt von euch.
Bald schon lese ich
«Ernesto Che Guevaras bolivianisches Tagebuch»
und erweitere meinen Horizont
auf die weltumspannende Befreiungsbewegung.
© Cinémathèque
Mit Dichtern, Malern, Musikern
«Der Stumme» lädt ein
zur Anteilnahme mit dem bewunderten, doch unbekannten
Künstler und Menschen Max Haufler.
Wir nehmen Anteil am Leben eines Einsamen und Verzweifelten,
stellvertretend für alle Einsamen und Verzweifelten.
Ähnlich nahmst du Kontakt auf mit den
«Naiven Malern in der Ostschweiz»,
mit «Raimon», dem Sänger gegen die Angst,
«Hans Staub, dem Fotoreporter»,
dem «Gebrauchsgrafiker Clément Moreau» und,
erhebend und bereichernd, mit Vivaldi.
Sie öffnen dir
und uns neue Sichten auf die Welt: Ansichten.
© Cinémathèque
Frisch oder Proust?
Mit «Arthur Rimbaud« näherst du dich einem grossen Aussenseiter
und wurdest selbst ein Aussenseiter.
Die beiden Schriftsteller,
die dein Leben und Denken seit der Adoleszenz geprägt haben, waren
Max Frisch und Marcel Proust.
Du bist immer wieder nach Paris zurückgekehrt,
um Proust auf Französisch zu lesen,
hast weiter in Zürich gelebt,
wo du Frisch begegnet bist.
In der Cinémathèque lerntest du die Klassiker
der Siebten Kunst kennen
und wurdest selbst einer von ihnen.
Dein Leben lang pendelst du zwischen
Frischianer und Proustianer,
wo der «Homo faber»,
von der Sachlichkeit zum Sarkasmus kommt,
wo Proust ihm zeigt,
dass die «verlorene Zeit» nur in der Kunst wieder auflebt.
© filmbulletin
Ob ich mich mit Rilkes «Panther» dir nähere?
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein grosser Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
So kommen, vermute und glaube ich, die Menschen in dein Herz,
kommen sie später in unsere Herzen.
«Genet à Chatila», ein Film, der mich erschüttert, gerade heute:
Ein Film-Schrei
wie der Bild-Schrei von Munch.
© Richard Dindo
Jean Genet besuchte am Tag nach dem Massaker
das Lager in Beirut und schrieb,
krebskrank, an der Schwelle des Todes, einen Text,
dem eine junge Frau folgt und
von uns eine Antwort erhofft, erbittet.
Ein Suchender und Reisender
© Richard Dindo
Dann schufst du «Die Reise des Bashô»
mit dem japanischen Dichter Matsuo Bashô,
setzest ihm ein Denkmal und lädst uns ein zu einer eigenen Reise.
Noch einmal anders versuche ich,
was ich von dir gesehen, gehört, erfahren habe,
zu verstehen und zu begreifen:
Ich erhole mir Hilfe vom persischen Dichter und Sufi-Meisters Dschalal ad-Din Rumi:
«Die Wahrheit war einst ein Spiegel,
der vom Himmel gefallen ist.
Er ist in tausend Stücke zersplittert,
jeder besitzt einen kleinen Splitter
und glaubt, die ganze Wahrheit zu besitzen.
Sie fiel und zerbrach in Stücke.
Jeder nahm ein Stück davon,
und sie schauten es an und dachten,
sie hätten die Wahrheit.»
Vielleicht bin ich,
still und stumm,
jetzt bei dir angekommen,
auch wenn du nicht mehr bei uns bist.
Und ich erinnere mich an dich
und einige deiner Filme.
Adieu,
herzlichen Dank.