Vous n'avez encore rien vu

Das Werk eines Magiers: Alain Resnais, der Altmeister des französischen Films, hat Orpheus und Eurydike in seinem neuen Film auf originelle Weise ins Heute übersetzt und dabei abgründig und lustvoll zugleich über Leben und Tod sinniert.

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Protagonisten mit Alain Resnais (rechts)

Der vielleicht letzte grosse europäische Regisseur, der 91-jährige Alain Resnais, ist es, der einst wegen Nichtgenügen von der Filmhochschule geflogen ist und dann die Filmkunst der letzten sechzig Jahre wesentlich mitgeprägt hat, legt uns hier seinen zwanzigsten Film vor. In meinen Augen die Summa seines Oeuvres. Begonnen hat er mit zwei Dokumentarfilmen: 1950 «Guernica» über das Kriegsgemälde von Picasso und 1955 «Nuit et brouillard» über eine Nacht-und-Nebel-Aktion der Nazis. Zwei Meilensteine des Dokumentarfilms, zwei Ikonen der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wie seine Dokumentarfilme handeln auch die folgenden Spielfilme zentral von Tod und Leben, Liebe und Vergessen. «Hiroshima, mon amour» (1959) – für mich der schönste Film der Filmgeschichte – thematisiert das Vergessen des Atombombenabwurfs über Hiroshima und die Liebe nach diesem Ereignis. «L’anné dernière à Marienbad» (1961) setzte Massstäbe für die Filmkunst, indem Resnais die Ästhetik des Nouveau Roman ins Kino einführte. Nach dreizehn weiteren Werken zeigt sich der Meister in «Les herbes folles» 2009 als altersweise und formal weiterhin als herausfordernd. Und diese Qualitäten entfalten sich im neuen Film nochmals reich und faszinierend.
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Zwei Verkörperungen der Eurydike (Sabine Azéma, Anne Consigny)


Orpheus und Eurydike – dreimal variiert

Mit himmelblauen und rosaroten, märchenhaft anmutenden Wolkengebilden beginnt «Vous n’avez encore rien vu». Es ist die geheimnisvolle, verspielte und vieldeutige Verfilmung der antiken Sage von Orpheus und Eurydike, die sich lieben und verlieren, wieder finden und endgültig verlieren. Diese Parabel versetzt der Regisseur in einen Raum der Zeitlosigkeit (mit einer Uhr im Saal ohne Zeiger). Auf einer zweiten Ebene erzählt er die Geschichte, wie sie Jean Anouilh in seinem Theaterstück «Eurydice» für die Bühne geschrieben hat, und verlegt sie im Zwanzigsten Jahrhundert in ein Bahnhofbuffet und ein Hotelzimmer (als Film im Film, inszeniert vom jungen Team der «Compagnie de la Colombe» von Bruno Podalydès). Den beiden Ebenen fügt er eine dritte, eine aktuelle, autobiographische bei, mit Darstellerinnen und Darsteller, mit denen er gearbeitet hat und die mit ihm befreundet sind. Er aktualisiert die Geschichte ins Hier und Jetzt. – Soweit die Struktur, die komplizierter erscheint als sie ist, wenn man sich nur in den Film hineinfallen lässt, nicht jeden Satz verstehen will, sondern über sein Leben und seinen Tod nachdenkt und innerlich mitdiskutiert.
«Vous n’avez rien vu» ist ein typischer «Resnais», der in seinem OEuvre immer wieder das Leben dem Tod und den Tod dem Leben gegenübergesetzt hat, so auch hier: Nach dem Tod des gefeierten Theatermannes Antoine d’Anthac erhalten dreizehn Freunde eine Einladung in sein Landhaus. Hier teilt ihnen der Verstorbene in einer Videobotschaft seinen letzten Wunsch mit. Die Versammelten, welche bei Inszenierungen seiner «Eurydike» mal mitgewirkt haben, sollen für ihn eine letzte Entscheidung treffen: Eine junge Theatertruppe hat ihm einen Mitschnitt ihrer Proben von «Eurydike» geschickt, um die Erlaubnis zur Aufführung zu erhalten. Kaum sehen die versammelten Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Figuren auf der Leinwand, fallen sie in ihre alten Rollen und fügen sich in die neue Version des Spieles ein. So werden alle vier Akte der Tragödie mit beiden Crews durchgespielt. – Doch das bleibt nicht die letzte Überraschung, die an diesem Abend auf sie wartet.
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Zwei Interpreten des Orpheus: Pierre Arditi und Lambert Wilson


Die Protagonisten – und wir


Die Akteure, die meisten bekannt aus seinen früheren Filmen, lassen sich bei ihrem Zusammentreffen in einem Dekor wie einem Bild des belgischen Surrealisten Paul Delvaux auf die schwarzen Lederfauteuils nieder und sehen sich hingebungsvoll das Spiel der Akteure auf der Leinwand an, welches sie früher selbst verkörpert haben: Sabine Azéma (im realen Leben die Frau von Resnais) und Anne Consigny vor Jahren in der Rolle der Eurydike, Pierre Arditi und Lambert Wilson in ihrer Jugend als Orpheus. Die Crème de la Crème der französischen Schauspielerzunft wie Mathieu Amalric, Lambert Wilson, Michel Piccoli, Hippolyte Girardot, Denis Podalydès und Michel Robin gehören neben den Titelfiguren zum Ensemble.
Soweit die Struktur und der Plot. Was die verschiedenen Orpheus- und Eurydike-Figuren reden und spielen, ist antik, ist Zwanzigstes Jahrhundert, ist heutig. Es ist das, was wir alle erleben, wenn wir uns, eingespannt zwischen Leben und Tod, befragen, hinterfragen und dann darüber sprechen. Was die alten und jungen Darstellerinnen und Darstellern formulieren, andeuten, verschweigen, erweist sich für als Impuls zu eigenem Überlegen, Sinnieren, Sprechen oder Schweigen. So entsteht der wirkliche Film für jeden und jede von uns bei der Vorführung im Kino. Man darf wohl sagen, dass die geschätzten tausend Aussagen über das Leben, die die Protagonisten machen, eigentlich erschöpfend sind. Da gibt es nichts mehr nachzutragen, auch nicht in einem weiteren, einem einundzwanzigsten Film. «Vous n’avez encore rien vu» gleicht einem filmischen Abschiedsbrief, mit grossem Ernst und verschmitztem Augenzwinkern, humorvoll und melancholisch über das Leben und den Tod sinnierend. Aber auch über das Theater und den Film, welche diese Fragen nahezubringen vermögen. Mit Recht, so meine ich, jubelt auch die Kritik über diesen Film: «Ein atemberaubendes Spiel und ein grossartiges, abgeklärtes Alterswerk», «Ein Film über das Kino mit den Mitteln des Theaters: ästhetisch verblüffend, die pure Lust am Spiel», «Ein abgeklärtes Alterswerk. Ein Film zum Niederknien schön.»
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Die alten Protagonisten beim Betrachten des Videos der jungen Truppe

Es waren wunderbare Jahre

Mit seiner Titelwahl hatte der Regisseur auch diesmal eine sichere Hand bewiesen. Im Satz «Vous n’avez encore rien vu», dessen Bedeutungen allein schon spannend sind, lässt sich eine Anspielung auf die Replik in «Hiroshima, mon amour» heraushören: «Tu n'as rien vu à Hiroshima», mit der sich Emmanuelle Riva wiederholt von ihrem japanischen Liebhaber belehren lassen muss. Der Film als «lebendiger Friedhof», meint Resnais, wird zum Ort, an dem sich die verschiedensten Generationen und Zeiten begegnen. Zudem macht er mit einigen Zwischentiteln Anspielungen auf Friedrich Wilhelm Murnaus «Nosferatu». Und Analogien finden sich auch zu Jean Cocteau, der Orpheus zwei Filme gewidmet hatte, und Luis Buñuel, der in «Cet obscur objet du désir» eine Rolle von zwei Schauspielerinnen spielen liess. Alain Resnais beendet im Nachspann seinen – wohl wichtigsten, vielleicht auch letzten – Film mit dem Song von Frank Sinatra «When I Was Seventeen, Eighteen …, It Was A Very Good Year».

Verleih: www.frenetic.ch
Trailer
Diskussion über den Film: Montag, 2. September, 18.30 Uhr im Zentrum Karl in Zürich. Siehe www.filmzirkel.ch