À l’école des philosophes

Was Empathie vermag: Im Film «À l’école des philosophes» begleitet Fernand Melgar Kinder einer Sonderschule für geistig Behinderte. Ein wunderbares Dokument über die Kraft der Empathie und der Liebe. - Kinostart 10. Januar
À l’école des philosophes

Die Klassenlehrerin Adele mit Kenza

Mit dem Dokumentarfilm «A l’école des philosophes» begleitet der 1971 in Marokko geborene und heute in der Schweiz arbeitende Filmemacher Fernand Melgar («La forteresse») Kinder einer Sonderschule für geistig Behinderte in Yverdon. Er schildert den Alltag von fünf Mädchen und Jungen während des ersten Jahres in der Schule und zu Hause. Alle Kinder haben eine mehr oder weniger starke geistige Beeinträchtigung; im Film können wir einige Aspekte dieser Krankheitsformen kennenlernen. Betreut werden sie von einem Team engagierter und kompetenter Pädagoginnen und Therapeutinnen mit bewundernswerter Empathie und Liebe. Die Eltern der Kinder erleben ein gerütteltes Mass an Enttäuschungen, Sorgen und Trauer, aber auch Zuversicht, Mut und Hoffnung. Während des Schuljahres wird die Klasse zu einer Gemeinschaft verschiedenartiger Menschen. Was zunächst unmöglich schien, wird in kleinen Schritten, doch auch mit Rückfällen, immer wieder möglich: zur Freude der Kinder, der Eltern und der Erzieherinnen und Erzieher. Betroffen dürfen wir miterleben, wie diese Kinder das Abenteuer des Lebens und die Welt entdecken. «A l’école des philosophes» ist ein Dokument über die Kraft der Empathie, der Liebe und die Wunder der Pädagogik!

Gekonnt und eindrücklich, nie aufdringlich oder indiskret, das sind Fernand Melgars Bilder, Töne, die Montage und die Dramaturgie. Inhaltlich wertvoll und interessant ist der Film auf drei Ebenen: Mit Sorgfalt und dennoch Spontaneität erreicht er Intensität und Nähe: Wir können bei den Kindern immer wieder Veränderungen feststellen und Entwicklungen wahrnehmen. Weiter erleben wir den enormen Einsatz der Betreuungs- und Lehrpersonen, ihre Heiterkeit, ihren Humor, ihr Engagement und den positiven Teamgeist im Haus. Nicht zuletzt lässt der Film uns durch die Nähe und Intimität bei den Gesprächen mit den Eltern erfahren, wie sie ihre Schicksale meistern und ihre Kinder trotz allem lieben.

«Man muss nicht behindert sein, um anders zu sein, denn wir sind alle anders», umschreibt Daniel Tammet, ein Schriftsteller, der selbst von Autismus betroffen ist, das Thema und weitet es gleichzeitig aus. «Wir haben fünf Sinne, diese Kinder haben einen oder zwei mehr als wir», erklärt die Klassenlehrerin Adeline ein Geheimnis ihrer Arbeit. Und der Schulleiter Jean-Philippe kommentiert den wesentlichen Grund seines Tuns: «Wenn sich die Behinderung eines Kindes verschlimmert, ist es schwierig, in unserer Tätigkeit einen Sinn zu finden. Ich will, dass sie heute glücklich sind. Und jeder Tag ist ein gewonnener Tag.»

Der schöne Film von Fernand Melgar dürfte alle, die auf irgend eine Weise mit Kindern zu tun haben – und wer hat das nicht? – im Kern berühren, zur Selbstbesinnung herausfordern und weiter zur Anteilnahme und Empathie ermuntern.

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Albina mit seiner Mutter

Anmerkungen des Regisseurs Fernand Melgar

«Ich bin Vater von drei rundum gesunden Kindern. Während jeder Schwangerschaft stellten ihre Mutter und ich uns dieselbe bange Frage: «Was machen wir, wenn unser Kind nicht normal ist?» Trotz einer dumpfen und diffusen Angst haben wir darauf nie eine Antwort gefunden. Bei jeder Geburt waren wir erleichtert, wenn die Hebamme verkündete: «Gratuliere, es ist ein gesundes Baby. «Im Laufe der folgenden Wochen, in denen das Neugeborene sich entwickelte, verflog unsere Besorgnis nach und nach, obwohl das Risiko einer versteckten Behinderung nie ganz ausgeschlossen werden kann. Die Liste ist lang und erschreckend: Autismus, Entwicklungsverzögerungen, Verhaltensstörungen, Epilepsie, bekannte oder unbekannte Syndrome usw. Wir verdrängten diese üblen Gedanken schnell und freuten uns über jeden Schritt unseres neuen Sprösslings. Andere haben nicht so viel Glück.

Die schönen Gefühle, die mit einer Geburt einhergehen, verwandeln sich für sie in grosses Leid, Auflehnung und Traurigkeit. Eine nie endende Trauer befällt sie. Es ist die Trauer um das erträumte Kind, denn niemand erträumt sich ein Kind mit einer Behinderung. Doch wenn man den Eltern eines Kindes mit einer geistigen Behinderung zuhört, sprechen sie auch von dem Geschenk, das ihnen das Leben gemacht hat. Ihr Kind hat ihnen einen anderen Blick auf den Menschen geschenkt, sie Toleranz und Geduld gelehrt. Diese Mütter und Väter erzählen uns von Kraft, Beharrlichkeit, fortwährenden Kämpfen, kleinen und grossen Siegen. Bei den meisten von uns stossen diese Worte auf ein geringes Echo. Nur wenige kennen solche Kinder, in der Öffentlichkeit begegnen wir ihnen kaum.

Denn die Grenze zwischen ihnen und uns ist dicht. Auf der einen Seite finden sich die Unbeeinträchtigten, sie bilden die Norm. Auf der anderen Seite die Menschen mit geistiger Behinderung, die man als eine Gruppe für sich begreift, eine Gattung, sozusagen eine spezielle Art von Mensch. Dieses Aussenseitertum ist nicht frei gewählt, sondern eine Konsequenz, es ist die Folge einer allgegenwärtigen Normierung und Kategorisierung. Dem Schaden, den diese Vorstellungen denjenigen Menschen zufügen, die zufällig auf der falschen Seite geboren wurden, stehen wir hilflos gegenüber. Die Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Therapeutinnen und Therapeuten, Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, die diese Kinder begleiten, kämpfen täglich gegen die Vorstellung an, dass jede und jeder der Norm entsprechen müsse. Sie haben es sich zum Ziel gemacht, den Kindern die beste Pflege, den besten Rahmen und den besten Unterricht zuteil werden zu lassen. So, dass sie ihre Fähigkeiten maximal entwickeln können und ihnen das einfache Recht gewährt wird, sich selbst zu sein. Die meisten haben ein grossartiges, oft unverhofftes Potenzial, doch der Weg ist lang und die Mehrzahl dieser Kinder wird niemals selbstständig sein.

Als Filmemacher habe ich stets versucht, die Ränder unserer Gesellschaft zu beleuchten, denn ich glaube, dass sie es sind, die uns definieren. Das Unbekannte stört, doch die Erfahrung des Anderen ist auch eine Quelle der Öffnung, der Erkenntnis und der Entwicklung. In einer Gesellschaft, in der es auf Rentabilität und Kraft ankommt, will ich zeigen, dass Verletzlichkeit und Schwäche in jedem Leben ihren Platz haben, und welchen Antriebs es bedarf, um diese zu überwinden. Während eines Jahres begleitete ich fünf Kinder einer Sonderschule in der Westschweiz bei ihren ersten schulischen Gehversuchen. Ohne Interviews oder Kommentar, im Stil des von mir bevorzugten Cinéma direct, richtete ich meinen Blick sowohl auf ihre ersten Schritte in der Schule, als auch auf ihre soziale Umgebung und ihr Familienleben. Der Gedanke, den Alltag dieser Kinder zu erzählen, entsprang meinem Wunsch nach Konfrontation und Einsicht. Das Gefühl von Fremdheit, das sie uns vermitteln, der Blick, den wir auf sie richten, und die Ausgrenzung machen es für sie noch schwerer, ihre Vorhaben und Träume zu verfolgen. So bürden wir ihnen ungewollt noch eine zusätzliche Behinderung auf. Man kann nicht jedem Menschenleben allein mit den Kriterien ökonomischer und sozialer Leistung gerecht werden. Diese Kinder sollten das Recht haben, so zu sein wie sie sind. Sie haben ein Recht auf Leben, ein Recht auf ein schönes Leben und ein Recht darauf, Teil der Gesellschaft zu sein wie jeder andere auch. Mein Film folgt ihnen bei ihren Lernprozessen, ihren Reaktionen, ihren Überlegungen und in ihrer ganzen Spontaneität. Ich erteile ihnen das Wort, mache sie und ihren komplexen Alltag sichtbar für die Welt. Um ihr Leben und ihre Empfindungen besser zu verstehen, versuche ich den Zuschauer so umfassend wie möglich an ihrem schulischen und familiären Leben teilhaben zu lassen. Ich hoffe, mit meinem Film ganz ohne Kunstgriffe dazu beizutragen, dass diese Kinder als das akzeptiert werden, was sie sind: Kinder wie andere auch.»

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Louis mit seinen Eltern

Drei Beiträge zur vertieften Auseinandersetzung mit dem Thema im Anhang

Die Institution École des Philosophes

Die Kinder der École des Philosophes und ihre Eltern

Das Team der École des Philosophes

Regie: Fernand Melgar, Produktion: 2018, Länge: 97 Minuten; Verleih: Outside the Box