A Man of Integrity
Reza, nach Wegen und Auswegen suchend
Der engagierte iranische Filmemacher Mohammad Rasoulof erzählt in seinem neuen Film von Reza, der sich aufs Land zurückgezogen hat und mit seiner Frau Hadis ein Leben als Fischzüchter im Norden Irans führen möchte. Aber auch auf dem Land herrschen Gewalt und Korruption. Ein Grossfabrikant, der beste Beziehungen zur Regierung unterhält, zwingt Bauern und Kleinbetriebe in ein Netz von Abhängigkeiten. Von den ersten Bildern an macht Rasoulof spürbar, dass in der beschaulichen Region, in welcher der Film handelt, ein Drama schlummert. Reza bekommt von einem Bankangestellten erklärt, wie er Regeln umgehen kann und Schulden nicht zurückzahlen muss.
Man kann sich den Mut vorstellen, den es für die gesamte Filmequipe brauchte, sich in ein Projekt zu stürzen, das so heisse Themen anspricht wie die Korruption im Land. Die visuelle Kraft und die packende Erzählung tragen dazu bei, dass der Film auch weltweit wahrgenommen wird. Der Filmemacher begnügt sich nicht mit der Beschreibung eines gesellschaftlichen Zustands. Seine Figuren wirken real, aus dem Leben gegriffen. Wie können Reza und Hadis reagieren und sich verteidigen angesichts der Angriffe, denen sie ausgesetzt sind? Zu Rasoulofs Kunst gehört es, die privaten Konflikte mit den ökonomischen in Beziehung zu setzen. So wird «A Man of Integrity» zu einem Genrefilm voller Suspense. Die Erzählung wird getragen von realistischen Bildern und einer Tonspur, die mit den Geräuschen der Natur arbeitet. Es ist ein Film, der verwurzelt ist im iranischen Leben und gleichzeitig eine universelle Reflexion entwickelt, indem er fragt: Wie weit kann ein Mensch seine Integrität behalten, wenn er gegen ein korruptes System antreten muss?
In einer nur scheinbaren Idylle
Der Regisseur
Mohammad Rasoulof wurde 1972 in Shiraz geboren, begann seine künstlerische Aktivität im Alter von neun Jahren als Darsteller im Theater und betätigte sich dort später als Regisseur und Autor. Er studierte Soziologie in Shiraz und Filmschnitt in Teheran. Der Fokus auf gesellschaftliche Themen, die Auswirkungen einer diktatorischen Regierung auf das Individuum und die Gesellschaft tritt in fast all seinen Filmen zum Vorschein. Mit «Twilight» drehte er 2002 seinen ersten langen Dokumentarfilm. Nach den Ereignissen der Präsidentschaftswahlen 2009 im Iran wurden Rasoulof und Jafar Panahi während Dreharbeiten verhaftet und zu sechs Jahren Gefängnis und 20 Jahren Berufs- und Reiseverbot verurteilt. Das Urteil wurde später auf ein Jahr reduziert. 2011 wurde sein Film «Goodbye» für die Filmfestspiele von Cannes ausgewählt, daraufhin wurde das Ausreiseverbot aufgehoben. 2013 drehte er «Manuscripts Don't Burn», der ebenfalls in Cannes zu sehen war. Kurz darauf wurden sein Pass und seine persönliche Habe am Flughafen von Teheran konfisziert. Zurzeit ist er auf Kaution frei. 2017 wurde «A Man of Integrity» am Festival von Cannes in der Rubrik «Un Certain Regard» als bester Film ausgezeichnet.
Hadis, Rezas starke Frau
Aus einem Interview mit Mohammad Rasoulof
Das ganze Interview ist der Besprechung als PDF angehängt.
Basiert diese Geschichte auf wahren Personen oder Situationen?
Mich interessieren in der Regel Geschichten, die etwas mit meiner Umgebung zu tun haben. Meine Figuren basieren auf den Menschen um mich herum. Wenn ich darüber nachdenke, finde ich auch in diesem Film Bezüge zu echten Ereignissen und Figuren. Ich schaue nur um mich. Ich erzähle meine Geschichten, und innerhalb dieser Geschichten stelle ich Fragen. Viele dieser Fragen begleiten mich seit meiner Kindheit. Wenn wir zum Beispiel aus unseren Geschichtsbüchern in der Schule erfuhren, dass Könige vor Hunderten von Jahren die Menschen regierten, indem sie sie unterdrückten und Ungerechtigkeit walten liessen, fragte ich mich: Wie ist das möglich? Ich denke, ich stelle mir noch immer dieselben Fragen.
Wie haben Sie die Dynamik zwischen den Eheleuten Reza und Hadis entwickelt?
Hadis' Beziehung zu Reza ist unterstützend. Sie möchte ihre Familie behalten. Hadis ist eine starke Frau und ist neben Rezas Partnerin auch beschützende Mutter. Aufgrund ihrer Arbeit hat sie mehr soziale Kontakte mit der Aussenwelt als ihr Mann. Sie versteht die Abgeschiedenheit Rezas, aber sie ist keine Einzelgängerin wie er. Als sie ohne Ausweg dastehen, erliegt sie rasch den dominanten gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Sie versucht, ihre Beziehungen und Ressourcen in ihrer Schule zu nutzen, um Rezas Probleme zu lösen. Selbst als der Gerichtsentscheid gefällt wird, rät sie Reza, sich wie die anderen zu verhalten, um der ausweglosen Situation zu entkommen, andere Leute zu bezahlen und die notwendigen Kompromisse einzugehen. Hadis steckt fest zwischen Reza und der Gesellschaft, in der sie leben. Sie weiss, wenn sie so stur ist wie Reza, verschliessen sich ihnen alle Türen im Leben. Man könnte sagen, dass Hadis als eine Art Puffer zwischen Reza und der Gesellschaft funktioniert.
Rezas Goldfische wurden vergiftet
Wie kann der Mensch seine Integrität in einem korrupten System bewahren?
«A Man of Integrity» spielt in einer Welt der Lügen, der Gewalt und der Korruption. Alle Figuren leben für und von der Korruption, «entweder als Unterdrücker oder als Unterdrückte», wie es im Film mal heisst, bis schliesslich auch Reza in die Korruptionsfalle tritt. Eingebettet ist dies in einer unterschwelligen, kaum wahrnehmbaren Religiosität, welche jemand mit «Gott hat für alle eine Lösung» umschreibt. Die umfassende Ausweglosigkeit dieser Geschichte erinnert an Werke von Franz Kafka. Tagtäglich davon betroffen sind Reza und Hadis und schliesslich auch ihre Beziehung. Der Satz «Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt» aus Friedrich Schillers «Wilhelm Tell» stösst einem immer wieder auf. Das Paar sucht den Frieden, was ihm aber verunmöglicht wird, bis schliesslich auch Reza wie Michael Kohlhaas in der Novelle von Heinrich von Kleist zu handeln beginnt. Der Film ist ausweglos und hoffnungslos.
Bis zum Schlussbild, das Mohammad Rasoulof wie folgt erläutert: «Ich konnte nicht auf Hoffnung bauen, um die Realität zu ignorieren. Auf der anderen Seite konnte ich auch die Macht der individuellen Entscheidungen in Bezug auf die soziale Ordnung nicht ignorieren. Aus diesem Grund ist die letzte Szene sehr wichtig für mich. Ich suchte nach einer Situation, in der wir Reza bar jeglicher Menschlichkeit sehen, als wäre er zu Stein geworden, nach seiner letzten Reaktion gegenüber dem Betriebsvertreter Abbas und dem Angebot des Betriebs. In der letzten Szene gleicht Reza den Überresten eines Fossils, hilflos, nackt und still, hält er sich an einem Stein fest. Plötzlich beginnt er zu zittern. Der Klang seines stillen Weinens beschreibt sein menschliches Schamgefühl, und dieses innere Schamgefühl in Reza ist für mich eine grosse Hoffnung, die mit der Realität übereinstimmt.»
Interview mit Mohammad Rasoulof, dem Regisseur von «A Man of Integrity» PDF
Regie: Mohammad Rasoulof; Produktion: 2017, Länge: 117 min, Verleih: trigon-film