A Perfectly Normal Family

Wenn der Vater eine Frau wird: Was geschieht in der Familie, wenn der Vater sich als trans outet? Dies leuchtet die dänische Regisseurin Malou Reymann im Spielfilm «A Perfectly Normal Family» einfühlsam und differenziert aus. Ein Film, der bewegt und Fragen stellt. – Ab 19. November im Kino
A Perfectly Normal Family

Emma will ihren Vater Agnete nicht anschauen

Die 11-jährige Emma hat immer gedacht, dass ihre Familie wie alle anderen ist. Bis ihr Papa Thomas sich eines Morgens als trans outet und erklärt, dass er von nun an als Frau leben möchte. Während Thomas nach und nach die elegante Agnete wird und aus der gemeinsamen Wohnung auszieht, verändert sich auch seine Beziehung zu Emma wie zur 16-jährigen Caroline. Und Helle, die Ehefrau und Mutter, lernt, dass diese Veränderung vielleicht «perfectly normal» ist, wenn Toleranz und Liebe es ermöglichen, neue Formen zwischenmenschlicher Beziehungen zu leben.

Mit Feingefühl und leisem Humor zeichnet die 1988 geborene dänische Regisseurin Malou Reymann in ihrem Erstlingsspielfilm «A Perfectly Normal Family» das autobiografisch gefärbte Porträt einer Familie, die sich von heteronormativen zu polynormativen Vorstellungen zu bewegen wagt.  

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Auch als Agnete liebt der Vater Emma


Aus eigenen Erfahrungen ...


Auf die Frage, warum sie sich gleich beim ersten Film entschlossen habe, in ihre eigene Lebensgeschichte, das Aufwachsen mit einem trans Vater, einzutauchen, antwortet Malou Reymann in einem Interview (im Anhang integral): «Nach meinem Abschluss an der Filmschule habe ich tatsächlich zunächst an einem anderen Film gearbeitet, fand aber nicht den richtigen Zugang zum Material. Es lief nicht gut. Mir wurde klar, dass ich niemals einen guten Film machen werde, wenn ich keine Geschichte erzähle, die mir am Herzen liegt und mit dem zu tun hat, was ich als Filmemacherin sein will. Ich musste den Sprung ins kalte Wasser wagen, selbst bei meinem ersten Film. Sobald ich diese Richtung eingeschlagen hatte, spürte ich, dass meine Arbeit viel besser lief. Ich beschloss, näher heranzugehen, und so ist es mir gelungen, Menschen zu berühren.» Zu ergänzen ist, dass die Darstellerin von Emma privat mit einem autistischen Vater aufgewachsen ist, also ebenfalls Andersartigkeit kennt.

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Tief innen ist die 13-Jährige verwundet


... Regeln und Normen durchbrechen


Dass diese Geschichte selbst erlebt wurde und deshalb von innen heraus erzählt werden konnte, ist in den Bildern, Sätzen und Einstellung zu spüren. Der Film lotet aus, was zwischen Menschen ablaufen kann, wenn Regeln und Normen geändert werden. Grosse Kunst, dies meine Meinung, durchbricht immer wieder Regeln und Normen; «A Perfectly Normal Family» tut das. Solche Filme sensibilisieren für etwas, das neu und fremd ist, zeigen andere Welten und werben um Verständnis dafür. Doch sind sie nie als Rezepte für ein glückliches Leben zu verstehen; sonst würden sie erneut zu Regeln und Normen, statt dass sie helfen, Veränderungen zu wagen.

Auf die Frage, welche Themen sie für diesen Film erkunden wolle, antwortete die Regisseurin: «Ich interessiere mich sehr für Normen und wie man sie bricht. In jeder uns bekannten Gesellschaft gibt es jemanden, der als anders wahrgenommen wird. Das, was wir für normal halten, sagt viel darüber aus, wer wir sind. Mich interessiert dieser Zusammenstoss. Das kann mit trans Menschen zu tun haben, wie in meinem Film. Aber auch mit Frauen, die meisten Geschichten, die wir erzählen, drehen sich bekanntlich um Männer. Jeder kennt das: Man fühlt sich normal, und plötzlich wird man zum Stadtgespräch, weil man ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen hat. Wir alle versuchen, in einem gewissen Ausmass normal zu sein, vor allem, wenn wir jung sind. Doch dann fragen wir uns, wer wir wirklich sind, und begeben uns schliesslich auf unsere Reise. In diesem Film geht es um Emmas Reise, doch auch die Reise ihres Vaters Thomas/Agnete, denn beide müssen akzeptieren, dass sie nicht mehr so wie alle anderen, sondern eben sie selbst sind.»

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Vater Agnete mit den Töchtern in den Ferien


Reisen zu Veränderungen in der Arbeit ...


Hinterfragt man dem Begriff der Veränderung, dies ein kleiner Exkurs, die aus dem Zusammenstoss mit Regeln und Normen folgt, stösst man schnell auf den Soziologen Richard Sennett und sein Buch «Der Flexible Mensch – Die Kultur des neuen Kapitalismus». Darin verlangt er für die Arbeit in der heutigen sich ständig verändernden Welt Flexibilität, was für junge, gut ausgebildete Menschen gut sein kann, für schlecht ausgebildete und für ältere jedoch kaum. Der Film «A Perfectly Normal Family» betrifft nicht die Arbeit, mit der sich viele identifizieren, sondern die ganze Persönlichkeit, den Kern unseres Wesens. Gelingt jemandem die Veränderung in der Arbeit nicht, verliert er den Job; gelingt die Veränderung des Innersten des Menschseins nicht, fällt er oder sie in ein schwarzes Loch, in eine weisse Leere.

Solche tragische Abstürze geschehen, wenn wir nicht den Mut haben, wenigstens versuchsweise, die Regeln und Normen der Gesellschaft zu hinterfragen. Keine leichte Aufgabe, wenn wir uns von Geburt an daran gewöhnt haben und Glauben und Gehorsam uns abhalten, diese theoretisch zu hinterfragen, geschweige praktisch zu erproben.

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Caroline und Emma bekommen bei Agnete ihre Zimmer


... und zu den Fundamenten des Lebens


Wie aufwühlend und schmerzhaft solche Lebensumbrüche sein können, zeigt der Film eindrücklich und aufklärend: in vier Variationen sozusagen, vier Menschen mit ihren Lebensgeschichten. Am Anfang steht die Verwandlung von Thomas zu Agnete, welche die Seele und den Körper umfasst; als Mann und als Frau grossartig gespielt von Mikkel Boe Følsgaard. Es folgt Helle, die Frau und Mutter, die ihre neue Rolle in der veränderten Situation finden muss, da es kaum Vorbilder dafür gibt, dezent im Hintergrund die Verwandlung beobachtend und neue Wege erkundend; perfekt dargestellt von Neel Rønholt. Weiter sind es die beiden Töchter, deren individuellen und zwischenmenschlichen Regungen, bis in die kleinsten seelischen und zwischenmenschlichen Tiefen, von Malou Reymann im Drehbuch beschrieben und auf dem Set inszeniert; grossartig verkörpert von den jungen Protagonistinnen: der 10-jährigen Kaya Toft Loholt als Emma und der 13-jährigen Rigmor Ranthe als Caroline.

Um das «Perfectly normal» zu unterstreichen, montierte die Filmemacherin Szenen ihrer eigenen Kindheit in die Haupthandlung. Sie sind es, die uns helfen, den ernsten, teilweise traurigen Plot mit Heiterkeit und Humor etwas aufzulockern. Ein Verdienst des Films ist wohl, dass er keine Antwort, sondern Hinweise auf Antworten gibt. «Mein Ehrgeiz ging dahin, einen Film zu machen, in dem man in jedem Moment jede der Perspektiven versteht», meint die Regisseurin.

Interview mit Malou Reymann


Regie: Malou Reymann, Produktion: 2019, Länge: 97 min, Verleih: xenixfilm