After Love

Eine neue Identität suchen: Mary, eine zum Islam konvertierte Engländerin in Dover, entdeckt nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes, dass dieser in Calais ein Geheimnis hat. «After Love», der Erstlingsfilm von Aleem Khan, fusst auf Elementen seiner Autobiografie, weitet dies aber aus zu einem vielschichtigen, allgemeingültigen Psychodrama. Ab 19. Mai im Kino
After Love

Mary trauert um ihren verstorbenen Mann

Aus Liebe zu ihrem pakistanischstämmigen Mann ist Mary als Fahima zum Islam konvertiert. Mittlerweile sind die beiden sechzig und leben zurückgezogen und glücklich in der Hafenstadt Dover im Südosten Englands. Bis zu seinem unerwarteten Tod pendelte der Mann jahrelang beruflich einundzwanzig Kilometer zwischen Dover und Calais. Als Mary in seinem Nachlass verdächtige Hinweise auf eine Frau in Frankreich findet, ist sie erschüttert, bricht auf und reist auf die andere Seite des Ärmelkanals. Dort möchte sie mehr über Ahmeds Doppelleben erfahren. Ohne sich erkennen zu geben, lässt sie sich samt Sohn Salomon im Haus der Ex-Geliebten als Putzfrau engagieren. Bei ihrem Suchen sieht sie sich bald einmal mit überraschenden und herausfordernden Wendungen konfrontiert. – Die Handlung des Spielfilms «After Love» von Aleem Khan ist nicht autobiografisch, verweist aber auf Parallelen zur Familiengeschichte des Filmemachers. Der 1985 geborene britische Drehbuchautor und Regisseur beeindruckte, nach drei Kurzfilmen, mit seinem ersten Langspielfilm Kritik und Publikum an der Semaine de la Critique 2020 in Cannes.

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Ahmeds Geliebte Geneviève Calais

Kommentar des Regisseurs Aleem Khan über ihre zerbröselnde Identität

Der Film entstand aus dem Wunsch, über meine eigene Erfahrung zu sprechen, zwischen zwei Welten und zwei Häuten zu leben. Ich bin Engländer und Pakistaner, was bedeutet, dass ich zwischen zwei Kulturen aufgewachsen bin, und als Muslim und Homosexueller musste ich lange Zeit zwei getrennte Leben führen. Diese Dichotomien waren in meiner Jugend schwer zu ertragen, ich hatte das Gefühl, nirgends wirklich dazuzugehören. Im Alter von 19 Jahren erlebte ich die Wende. Ich war an der Universität und hatte das Gefühl, bei mir einen Bruch zu erleben. Endlich akzeptierte ich meine Sexualität und verabschiedete mich von der Religion, in der ich aufgewachsen war. Das Infragestellen und Neugestalten meines Lebens korrespondierte mit der Identitätskrise, die meine Mutter damals durchmachte. Dieser emotionale Übergang hat mich nicht losgelassen, ich wollte ihn weiter erforschen. «After Love» ist eine Geschichte, die aus verschiedenen Schichten besteht, mit einer Frau im Zentrum, die darum kämpft, die verstreuten Stücke ihres Herzens sowie ihre völlig zerbrochene Identität wieder zusammenzufügen. Sie sucht nach der Wahrheit, nach Verständnis und schliesslich nach ihrer Familie.

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Geneviève mit ihrer Putzfrau Mary

Aleem Khan antwortet in einem Interview auf Fragen zum Film


Da Aleem Khan in seinen Äusserungen zum Film mit Rückgriffen auf seine Biografie und mit der Vorschau auf den Film argumentiert, regt er auch uns an, immer wieder vom Film zu uns und von uns zum Film zu switchen. Damit ist die ausführliche Wiedergabe der folgenden Antworten begründet:

Welche Elemente des Films sind autobiografisch? Die Geschichte ist nicht autobiografisch, aber die Figuren sind mir durch ihre inneren Abläufe, ihre Identitätssuche und ihre Trauererfahrungen sehr nahe. Mary ähnelt meiner Mutter, während Ahmed meinem Vater nachempfunden ist. Die Beziehung meiner Eltern zu reflektieren war für mich und die Ausgestaltung der Filmgeschichte von entscheidender Bedeutung. Als sie in den Zwanziger-Jahren heirateten, konvertierte meine Mutter zum Islam, und beiden zogen an die Westküste. Nach und nach legte sie ihre europäische Kleidung ab und trug den Shalwar-Kameez, die traditionelle weibliche Kleidung Süd- und Zentralasiens. Sie lernte Curry kochen und Pandschabi sprechen. «After Love» folgt einer Frau, die, als sie vom Tod ihres Mannes erfährt, gezwungen ist, ihr ganzes Leben infrage zu stellen, während sie gleichzeitig eine ungeheure Trauer durchlebt. Was ich nicht vorhergesehen hatte, war, dass der frühe Verlust ihres Kindes ein zentraler Punkt in Marys Leben würde. Erst spät im Schreibprozess wurde mir klar, dass mit dem Einbezug dieses Todes die Mutter in Wirklichkeit von mir sprach und es mir ermöglichte, mit dem Tod meiner damals sechs Monate alten Schwester Frieden zu schliessen. Erst am Schneidetisch wurde mir bewusst, welche Auswirkungen dieses Ereignis auf mein Leben hatte.

Wie verlief das Schreiben des Drehbuches? «After Love» ist mein erstes Drehbuch für einen Langspielfilm, und das Schreiben erforderte von mir ein hohes Mass an Selbstreflexion, was ich nie zuvor erlebt und auch nie erwartet hatte. Das Schreiben war für mich eine Therapie. Es war anstrengend und hat Dinge ans Licht gebracht, die tief in mir verstrickt und verborgen waren, was vielleicht erklärt, warum ich sechs Jahre für das Drehbuch brauchte.

Was waren die Hauptthemen, die Sie mit diesem Film ansprechen wollten? Ich wollte die Konstruktion unseres Begriffs von Identität erforschen, genauer, für wen wir sie ausgestalten. Wir sind es gewohnt, unser Verhalten an die Umgebung und die Menschen, mit denen wir zusammenleben, anzupassen und tun dies oft auch für diejenigen, die wir lieben. Wir können sogar so weit gehen, dass wir uns für andere einen speziellen Charakter erschaffen. Doch warum eigentlich? Ist es, um uns selbst begehrenswerter, akzeptabler, liebenswerter zu machen? Mary nimmt Ahmeds Religion und Kultur so umfassend an, dass die Person, die sie vorher war, ausgelöscht zu sein scheint. Es stellt sich grundsätzlich die Frage, wie viel von uns wirklich uns gehört. Anhand ihres Lebensweges wollte ich auch unseren Trauerprozess erforschen und herausfinden, wie wir den Gedanken akzeptieren, unsere «Hälfte» zu verlieren, und was von uns übrig bleibt, wenn dieser Prozess abgeschlossen ist. Ich war davon sehr berührt, wie Wahrheit, Moral und Lüge in Beziehungen miteinander verwoben sind und wie die Figuren im Film mit ihrem eigenen Moralkodex umgegangen sind und gegen ihn verstossen haben. Es war mir wichtig, die Personen in «After Love» nicht zu bewerten oder zu verurteilen, obwohl sie sich alle des Verrats und des Überschreitens von Grenzen schuldig gemacht haben.

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Mary/Fahima kämpft für eine neue Identität

Vom Autor zu den Filmfiguren und dann zu uns


Es gibt Filme, bei denen die Zuschauenden dahin geführt werden, die vielen Strängen einer Geschichte zu einer einzigen zu bündeln und daraus die Hauptgeschichte zu konstruieren. Und es gibt Filme, bei denen sich der Hauptstrang am Anfang im Verlauf der Handlung in weitere Stränge mit weiteren Motiven ausweitet, so wie ein Strom bei der Einmündung ins Meer in vielen Flüssen mäandert. So habe ich «After Love» erlebt. Die mit persönlichen Themen des Autors beladenen Filmfiguren führen in die Lebenswelten von jedem und jeder von uns.

Mit dem andern Blick auf die Menschenwelten


«After Love» liefert mir, wie andere Filme, den Beweis, dass Geschichten aus andern Ländern und andern Kulturen, Storys von andern Alters- oder Berufsgruppen als der unsrigen nützlich und wertvoll sind. Weil sie unsere Menschenwelt aus neuen, anderen Perspektiven zeigen, dabei blinde Flecken ausleuchten, den Horizont erweitern – und so helfen, unsern Standort, den Ort, wo wir stehen, sehen, hören, denken und fühlen, mit andern Standorten zu erweitern und so zu einer grösseren als der bloss einseitigen Wahrnehmung der Wirklichkeit verhelfen – einer Bewusstseinserweiterung also ohne LSD & Co.

Regie: Aleem Khan, Produktion: 2021, Läge: 89 min, Verleih: Frenetic