Air Doll

Hirokazu Kore-eda, der japanische Meisterregisseur, schuf mit «Air Doll» ein Gleichnis, das zeigt, was den Menschen zum Menschen macht. Wunderbar, vielschichtig und geheimnisvoll, dass sich auch ein mehrmaliger Besuch lohnt, weil sich dabei immer neue Feinheiten offenbaren.

 

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Junichi, ein Mann um die vierzig, kehrt von seiner Arbeit als Kellner in seine kleine Vorortswohnung in Tokyo heim. Er freut sich, den Abend mit Nozomi, eine aufblasbare Puppe («Air Doll»), zu verbringen. Mit ihr spielt er Eheleben, ein bisschen einseitig zwar, doch er scheint zufrieden zu sein. Er hat ihr schöne Kleider gekauft und plaudert mit ihr am Tisch über den Arbeitstag. Bei Geschlechtsakt knistert der Plastik bei jeder Bewegung. Eines Morgens, kaum ist er aus dem Haus, beginnt die Puppe sich zu bewegen, kleidet sich an und stakst hinaus auf die Strasse. Sie will das Leben entdecken und nimmt wissbegierig auf, was sie unterwegs zu sehen und zu hören bekommt. Nozomi, hervorragend verkörpert von der koreanischen Schauspielerin Duna Bae, entdeckt auf ihren Streifzügen das, was den Menschen zum Menschen macht.

Der Puppe das Leben einhauchen

Der verspielte, phantastische, bildstarke Film über eine Puppe, die richtig Frau, richtig Mensch sein will, kann zu Beginn vielleicht etwas verunsichern. Doch von Minute zu Minute nimmt er einen mehr in die zauberhafte, poetische Welt eines radikalen philosophischen Diskurses. In früheren Werken ging es Kore-eda um den Übergang vom Leben zum Tod, vom Sein zum Nichtsein. Der neue Film sei ganz anders, meinte er kürzlich bei einer Aufführung. Diesmal gehe er vom Nichtsein zum Sein, wolle er zeigen, was den Menschen zum Menschen mache. – Meine Besprechung profitiert über weite Strecken von der Analyse und den Interviews von Walter Ruggle mit Hirokazu Kore-eda im Trigon-Magazin 48.

Nozomi weiss sehr genau, was sie ist: «Ich bin eine Puppe, ein Substitut (ein Ersatz) für sexuelles Verlangen.» Nach ihrem langsamen Erwachen tritt sie hinaus ans Licht. Sie betrachtet Regentropfen. Die Unschuld strahlt ihr aus den Augen. «Schön» ist ihr erstes Wort, mit dem sie die Welt begrüsst. Nicht unverwandt dem «Und es war gut» der Schöpfungsgeschichte, doch nicht vom Schöpfer, sondern vom Geschöpf ausgesprochen. Der erste Schritt ihrer Menschwerdung ist getan: Sie hat mit ihren Sinnen wahrgenommen und es ausgesprochen, ihm einen Namen gegeben. Dann zieht sie eines der Kleider an, die ihr Junichi geschenkt hat. Sie gibt sich ein Aussehen, wählt eine Rolle und mischt sich unter die Leute. Einerseits erlebt sie die Leichtigkeit des Seins, anderseits die Hektik der Menschen. Und weiter geht ihr Gang. Sie ahmt nach, lernt auf diese Weise. Doch gleichzeitig merkt sie, was ihr noch fehlt zum Leben.

Die Stufen zur Menschwerdung gehen

Bei ihrem Gang durch die Strassen kommt sie zum DVD-Shop «Cinema Circus», wo sie eine Anstellung erhält und in die Welt des Films eintaucht und die Grossen der Siebten Kunst kennen lernt. Auch Filmemacher erschaffen Menschen aus dem Nichts und hauchen ihnen Leben ein, genau so wie sie von Junichi immer wieder durch das Ventil am Bauchnabel aufgeblasen und Leben eingehaucht bekommt. Hier lernt sie neue Wörter, «Kino», «Film», «Freund» und hört vom Händler, dass die DVD auch ein Substitut des Kinos sei – genau wie sie ein Substitut für Erotik und Leben. Für wirkliche Beziehungen braucht es lebendige Menschen. «Filme sind aus Filmmaterial gemacht. Licht geht durch es hindurch auf die Leinwand», hört sie und denkt an sich, an ihre Existenz.

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Filmhistorisch Interessierten empfiehlt sich der Vergleich mit einem andern «Film über die Menschwerdung»: François Truffauts «L’enfant sauvage» aus dem Jahre 1969. Spannend, Unterschiede der beiden, vierzig Jahre auseinander liegenden Filme zu entdecken.

Was fehlt, ist das Herz, die Seele.

Was Nozomi anfänglich aber fehlt, ist das Herz, die Seele. Diese wird ihr dann von Junichi eingehaucht, dann bekommt sie auch ein Herz. Doch rund um sich spürt sie, dass viele Menschen kein Herz oder niemanden mit einem Herz haben, einsam sind. Vielleicht ein Grund, weshalb es überhaupt solche aufblasbare Puppen gibt. Doch sie freut sich, dass sie lebt und dass sie älter wird, das heisst, dass sie weiter lebt: «Danke, dass Sie mich geboren haben», sagt sie zum Puppenmacher. Doch auch ihr Leben ist endlich. Ihr bleibt kein Begräbnis und kein Grab, sondern nur einen Ort mit nicht kompostierbarem Abfall. Dass ganz am Ende des Films aber die Früchte einer Pusteblume zum Himmel und auf die Erde schweben, zeigt, dass sie ein Mensch und damit endlich war und dass das Leben weiter geht.

Der Regisseur, der Gott spielt

Nach seinem Studienabbruch, er wollte Schriftsteller werden und studierte Literatur, vertrieb er sich seine Zeit im Kino, wo er die Klassiker der Filmgeschichte kennen lernte. Er begann mit Fernseharbeiten, dreht dann Dokumentarfilme. Mit dem Ansatz des Non-Fiktionalen kam er zum Spielfilm, zur Fiktion, die ihn von den Zwängen des Dokumentarischen befreite. «Die Fiktion ist eine Methode, mit der ich ins Innere eines Menschen eindringen darf, sogar so weit gehen kann, den göttlichen Blickwinkel einzunehmen,» Hitchcock hat dies noch zugespitzt: «Im Dokumentarfilm ist Gott der Regisseur, im Spielfilm ist der Regisseur Gott.»

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«Ob ich Dokumentar- oder Spielfilme drehe, die Kamera ist für mich ein Mittel, mit der Person eine Beziehung aufzubauen oder sie zu lieben. Gleichzeitig ist die Kamera aber auch ein Schutz für mich, um mich nicht ganz in die Person hineinzugeben, damit ich nicht gleich werde wie sie. Ich brauche sie, um Distanz zu halten. Deshalb sehen meine Filme auch nicht so aus wie Hollywoodfilme.» So reflektiert er seine Arbeit.

www.trigon-film.org