Alle die Du bist

Das traurig-heitere Endspiel einer Beziehung: Der in der Kölner Kohleindustrie angesiedelte melancholisch-turbulente, magisch-sozialrealistische Film «Alle die Du bist» des Newcomers Michael Fetter Nathansky mit einer grossartigen Aenne Schwarz in der Hauptrolle reflektiert die Folgen von Überarbeitung und Existenzangst sowie das Wechselspiel von Anziehung und Abstossung eines Liebespaares auf zärtlich-anregende Weise in kühn-herausfordernder Filmsprache. Ab 6. Juni im Kino
Alle die Du bist

Es gibt Filme, bei denen ich spüre, dass es sich um einen genialen Wurf handelt, auch wenn ich nicht alles verstehe. «Alle die Du bist» ist ein solcher. Hier sind es weniger schwer zu entschlüsselnde Aussagen, als vielmehr das Kölsch, das ich nicht immer verstehe. Deshalb folgen am Schluss einige Antworten aus einem Interview mit dem Filmemacher, die den Zugang erleichtern. Im Anhang integral.

Die unerschrockene Fabrikarbeiterin Nadine (Aenne Schwarz in einer Glanzrolle) verliebt sich in ihren schrägen Kollegen Paul (Carlo Ljubek, subtil sich wandelnd). Sie ist verzaubert von der Bandbreite seiner vielfältigen Wesenszüge. Im Alltag ihrer jahrelangen Beziehung hat sich dieser Zauber jedoch verflüchtigt. Sie nimmt ihn abwechselnd als Paul in den Rollen wahr, die er für sie spielte. Wird es ihnen gelingen, die Gefühle ihrer ersten Verliebtheit neu zu entdecken und ihre Liebe wieder mit all ihren Facetten wahrzunehmen und zu leben?

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Paul und Nadine

Eine Frau wird gerufen, weil ihr Mann während eines Vorstellungsgespräches seine Fassung verloren hat und ausgerastet ist. Behutsam betritt Nadine das Kellerabteil, in dem Paul sich verschanzt hat. Ihre heldenhaft zurückhaltende Art lässt an die Zähmung eines wilden Tieres, vielleicht sogar eines Monsters denken. Die Handlung spielt am Rande von Köln, im Umfeld von Maschinenbau und Kohleindustrie. (Ein Vergleich mit dem Film «Wir waren Kumpel» (https://der-andere-film.ch/filme/filme/titel/wxyz/wir-waren-kumpel) von Christian Johannes Koch und Jans Matauschek bietet sich an und lässt uns das Spezifische jedes Werkes noch besser verstehen.

Paul erscheint, nachdem Nadine ihn gebändigt hat, in der Gestalt eines schnaubenden Rindes mit Fell und Hörnern. Bald wird er zu einem unsicheren Teenager (Sammy Schrein). Später auch mal zu einem netten jungen Mann (Youness Aabbaz). Schliesslich zu einer weisshaarig-gütigen Mutter (Jule Nebel-Linnenbaum). Diese Wechsel der Identität oder deren Wahrnehmung fordert heraus und führt hinein in ein vertieftes Schauen.

Bedeutungen

Eine Konversation der Arbeitskollegin Ajda mit Nadine, in welcher die erste bittet, sie anzuschauen und ihr dafür Geld zahlt, kann wie ein poetisch-existenzielles Gleichnis über die Wahrnehmung, also des Für-wahr-Nehmens einer Person oder Sache gelesen und schliesslich als Fundament jeder Kommunikation verstanden werden. Was auch die verschiedenen Episoden im Leben des Paares erklärt.

«Alle die Du bist» ist, auf den Punkt gebracht, ein Psychogramm des Verliebens und Entliebens. Mit grosser Exaktheit und Stringenz erzählt Michael Fetter Nathansky, wie unfassbar fluid die Identität jedes Menschen ist und wie stark Arbeit und Liebe sie dabei gegenseitig beeinflussen. Es ist auch ein Film über die Liebe zur Arbeit und gleichzeitig über die Arbeit an der Liebe. Der Filmemacher schildern viele kleine Abschiede, die in einer langjährigen Beziehung sich ereignen können: Wer war der andere damals? In wen habe ich mich verliebt? Ist sie oder er für mich zwischenzeitlich gestorben? Oder hat er, hat sie sich nur verändert?

 

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Der Film widmet sich in unzähligen lustigen und traurigen, unterhaltsamen und berührenden Szenen der überraschenden und erschreckenden Ahnung, dass die Liebe von Nadine und Paul ein Ende gefunden haben könnte, wenn auch nicht müsste. Er befasst sich facettenreich mit dem Phänomen der Liebe, indem er demonstriert, wie viele unterschiedliche Seiten wir an einem Menschen lieben können und wie unerklärlich es werden kann, wenn uns dieses extrem starke Gefühl der Verliebtheit plötzlich abhandengekommen scheit. Keine Dramatik, lediglich Befürchtungen stehen im Raum, wenn die Liebe nicht mehr da ist. Das Leben dieser Arbeitskräfte aus der Unterschicht wird zusätzlich beeinflusst von Tatsachen wie betrieblichen Umstrukturierungen, die Lohnkürzung oder Jobverlust zur Folge haben können.

Mit seinen exakten Dialogen, unterstützt von der Kamera von Jan Mayntz, der Musik von Ben Winkler und Gregor und der Montage von Andrea Mertens, räumt Michael Fetter Nathansky mit dem Leitmotiv der Anziehung und Abstossung und der Erkenntnis einer vielleicht endenden Liebe viel Platz ein und bietet auch uns viel Raum zur persönlichen Verarbeitung des Gesehenen und Gehörten. Der Film des dreissigjährigen, bereits mehrfach ausgezeichneten Regisseurs spielt mit den schwierigen und komplexen, psychologischen und philosophischen Fragen der Wahrnehmung und damit der Wahrheit respektive der Wahrheiten.

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Aus einem Gespräch mit Michael Fetter Nathansky

 

Woher kam die ursprüngliche Idee für diesen Film? Den Kern der Geschichte konnte ich zum ersten Mal greifen, als ich gemerkt habe, dass für mich nicht die unterschiedlichen Gestalten Pauls zentral sind, sondern wie Nadine ihn sieht und liebt. Was erzählt uns ihr Blick über ihre Sehnsüchte, Ängste, über all jenes, was sie in der Liebe sucht? In wen verlieben wir uns eigentlich? Und wie würde in diesem Sinne der Mensch aussehen, den sie nicht mehr liebt? Da mich diese Fragen irgendwann nicht mehr loslassen wollten, wusste ich, dass diese Idee nicht nur ein Film, sondern auch eine Reflexion meines eigenen Liebesverständnisses sein würde.

 

Weshalb hast du das Setting einer Fabrikkulisse ausgewählt? Mich hat ein Umfeld interessiert, das Nadins tiefste Gefühlsentwicklungen atmosphärisch spiegeln kann, aber gleichzeitig auch in ihre Realität und ihre Geschichte eingreift. An ihrem Arbeitsplatz wird alles in Frage gestellt und diese Ungewissheit hat schliesslich auch Folgen für ihr Selbstverständnis als Liebende. Wir haben Fabriklandschaften gesucht, die so wie Paul viele verschiedene Gestalten in sich tragen. Es ist letztendlich Nadins Blick, der im Film darüber entscheidet.

 

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Die ganze Patchwork-Familie

 

Die Kommunikation zwischen den Figuren Nadine, Paul und den anderen findet auf vielen Ebenen statt, durch Dialoge, Dialekt, Körpersprache, Gesten, Blicke. Kannst du uns erzählen, was Sprache und Kommunikation für dich bedeuten? Es gibt das Credo, dass Figuren im Film nicht alles aussprechen sollen, was sie denken. Mich interessiert genau das Gegenteil. Was, wenn wir alles aussprechen können, sogar eine gemeinsame Sprache finden, und wir uns trotzdem so fern voneinander fühlen und einsam sind? Darin liegt in meinen Augen die grösste Machtlosigkeit. Ich kann «Alle die Du bist» benennen und dich trotzdem nicht erkennen. Dieser Widerspruch macht mich einerseits sehr traurig, auf der anderen Seite entfacht er meine erzählerische Lust.

Ein Gespräch mit Regisseur Michael Fetter Nathansky

Regie: Michael Fetter Nathansky, Produktion: 2024, Länge: 108 min, Verleih: Cineworx