Anatomie d'une chute

Ein sanfter Sturz in die Wahrheit: Justine Triet nimmt uns mit ihrem fesselnden Drama «Anatomie d’une chute» mit an einen Gerichtsprozess, in eine Paarbeziehung und schliesslich an die Grenze der Wahrheitssuche: in Justiz, Psychologie und Philosophie. Ab 9. November im Kino
Anatomie d'une chute

Samuel, der Tote im Schnee

Das Schriftstellerpaar Sandra Voyter und Samuel Maleski lebt mit seinem elfjährigen sehbehinderten Sohn Daniel abgelegen in den Bergen bei Grenoble. Während sie beruflich Erfolge feiert, leidet er seit Jahren an einer Schreibblockade. Als Sandra zuhause ein Interview gibt, torpediert Samuel dieses mit ohrenbetäubender Musik, und das Gespräch muss abgebrochen werden. Später am Tag findet Daniel, nach einem Spaziergang mit dem Blindenhund, den Vater tot vor dem Haus im Schnee. Eine Untersuchung wird eingeleitet und Sandra wegen Mordes an ihrem Mann angeklagt. Doch es bestehen Zweifel: War es Mord oder Selbstmord? Sie muss sich einem aufreibenden Gerichtsverfahren stellen, bei dem die Beziehung des Paares regelrecht seziert wird.

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Sandra beim Verhör

Der Streit im Gerichtssaal

Die Polizei ermittelt, kommt aber zu keinem eindeutigen Resultat. Die Staatsanwaltschaft erhebt anhand der Indizien Anklage gegen die Autorin. Jetzt muss sie ihre Unschuld beweisen. Für sie war sein Tod ein Unfall. Vor Gericht wird sie, auf Anraten ihres Anwalts, mit dem sie mal liiert war, von Suizid sprechen, was die glaubwürdigere Geschichte ergebe.

Zweieinhalb Stunden lang fesselt uns die französische Regisseurin Justine Triet mit einem Justizfall, der nach einem präzisen Drehbuch und grossartiger Inszenierung mitnimmt. Die Figuren des französischen Justizsystems – mit Polizei, Vincent Renzi als Anwalt, der Richterin Bollène, dem Staatsanwalt sowie Zeugen und Experten – liefern sich ein akribisch fundiertes Argumentationsgefecht, mit dem Ziel, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Einerseits sind Fakten gesucht, anderseits werden Emotionen geweckt; anstelle von Urteilen entstehen immer neue Vorurteile. Und die Suche geht weiter.

Wie weit die Untersuchung kommt, sei hier verschwiegen. Wir Zuschauenden werden eingeladen, uns selbst auf den Weg zu machen. Die Suche nach der Wahrheit geht weiter und weiter. An diesem Gerichtsfall wird durchgespielt, bis immer offensichtlicher wird: Die gesuchte Wahrheit wird nicht gefunden.

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Die Angeklagte mit Anwalt Vincent Renzi

Die Analyse einer Paarbeziehung

Statt den Fall sachlich, wissenschaftlich zu rekonstruieren, steuert «Anatomie d’une chute» dahin, eine glaubwürdige Geschichte zu erzählen. Die Verteidigung spricht von einem unglücklichen Mann, der immer hinter seiner erfolgreichen Frau stehen musste. Darum habe er sich das Leben genommen. Die Anklage präsentiert Sandra als manipulierende Frau, die ihre Bedürfnisse stets über die ihres Umfeldes stellt und schliesslich zur Mörderin wird.

Ohne der gesuchten Wahrheit durch das Zusammensetzen und Auseinandernehmen von Fakten, Tatsachen, Beobachtungen, Vermutungen und Befürchtungen näherzukommen, verlagert sich unser Blick immer stärker auf die Beziehung zwischen Sandra, Samuel und Daniel und öffnen sich Abgründe, die juristisch kaum zu erklären sind. Es geht um Glauben und Zweifel, Vertrauen und Misstrauen, Rivalität und Erniedrigung, offensichtliche und versteckte, vergessene oder verdrängte. In diesem Beziehungsgeflecht eingebunden sind auch Themen wie Elternschaft, Ehe, Erziehung und der ganze Komplex der Schuld und Reue. Auch hier löst sich der Nebel des Unbekannten und Ungeklärten nicht auf, bis allmählich unsere Anteilnahme diffus und unbestimmt wird. Wenn es im ersten Teil um die Mechanik eines Falles ging, handelt es sich beim zweiten um die Dynamik einer Paarbeziehung, die von innen und von aussen beschrieben wird.

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Der sehbehinderte Daniel

Was ist Wahrheit?

In einer Nebenbemerkung erklärt der Film, wie in der Literatur und im Leben aus Fakten Fiktionen und aus Fiktionen Fakten entstehen, was für Sandra wohl zutrifft, denn auch ihre Texte haben einen Ursprung im Erlebten. Fragt sich also, könnte ihr Handeln nicht auch aus ihren Texten stammen? Die Schönheit des Films lässt uns über weite Strecken vergessen, dass tief unter der narrativen Oberfläche juristische, psychologische und schliesslich philosophische Fragen verborgen sind, wie die folgenden: Was ist Wahrheit? Was bedeutet Wahrheit? Gibt es überhaupt Wahrheit?

Schon bald wird einem klar, wenn man diesen Fragen nachgeht, dass es Eindeutigkeit, folglich auch Kausalität nicht gibt, dass aber durch die Sprache emotional und intellektuell Verstehen möglich wird: Dass es nicht die die eine Wahrheit, sondern Wahrheiten im Plural gibt. Eindrücklich, wie Justine Triets Film uns dafür ins Dunkel und ins Unbestimmte, ins Schweigen und ins Offene führt. Das dürfte am unvorhersehbaren Drehbuch, an der meisterhaften Regie, am unnahbaren und dennoch empathischen Spiel von Sandra Hüller liegen, bei der bereits ein kleines Augenzwinkern im Gerichtssaal an gesicherten Tatsachen zweifeln lässt, da Triet das Buch «mit Hüller im Hinterkopf» geschrieben hat. «Anatomie d’une chute» ist ein überragender Gerichtskrimi, eine starke Charakterstudie und ein einnehmender philosophischer Exkurs über die Wahrheit, der mit existenzieller Neugier einen blinden Fleck unserer Gesellschaf ausleuchtet. Dafür hat er in Cannes die Goldene Palme erhalten.

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Sandra mit Snoop

Neu und anders gefragt

Wer die Frage «Was ist Wahrheit?» hört und christlich sozialisiert ist, denkt wohl gleich an Pilatus und seine Reaktion auf die Aussage Jesu: «Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege.» Ob die Antwort von Pilatus spöttisch-skeptisch oder ernst gemeint war, bleibt unbeantwortet, ist aber auch heute noch relevant. Der Begriff der Wahrheit wird verschieden verstanden, eine klassische Antwort stammt von Thomas von Aquin: «Die Wahrheit ist die Übereinstimmung von Sein und Denken, zwischen dem Gedachten, Gesagten und einem Sachverhalt». Und schon sind wir mittendrin im Antworten auf Fragen, im Fragen auf Antworten.

Dass ich die richtige Antwort kenne, wird mir wohl niemand unterstellen, ich bin indes zufrieden, wenn ich mit meinem Text zu Justine Triets «Anatomie d'une chute» den einen oder die andere motiviert habe, mit Fragen zu beginnen, auch wenn es die Antwort nicht gibt – oder hat sie eventuell der sehbehinderte Daniel?

Anhang: «Anatomie d'une chute» – Der Inhalt, fast bis zum Schluss erzählt
Regie: Justine Triet, Produktion: 2023, Länge: 152 min, Verleih: Filmcoopi

Regie: Justine Triet, Produktion: 2023, Länge: 152 min, Verleih: Filmcoopi