At Home
Die Haushälterin Nadja
Die aus Georgien stammende Nadja lebt seit zwanzig Jahren als Haushälterin bei einem Paar der griechischen Oberschicht in einem Athener Vorort hoch über der Ägäis, wo sie sich als Teil der Familie fühlen darf. Sie kocht, putzt, pflegt den Garten, bringt die Tochter Iris zur Reitstunde, sorgt dafür, dass die Hemden von Stefanos stets sauber sind und seine Frau Evi ihren Tee bekommt. Nur selten kann sie ihre Zeit mit ihrem Freund Markos am Strand verbringen. Freizeit betrachtet sie als Luxus, der ihr nicht zusteht. Als bei ihr plötzlich Multiple Sklerose festgestellt wird, ist die Idylle zu Ende. Stefanos beendet das Arbeitsverhältnis mit ihr. In seiner Lebenswelt gibt es keinen Platz für jemanden, der nicht perfekt funktioniert. Die Öffentlichkeit nimmt das anfänglich kaum wahr. Erst allmählich wird es offenbar, dass oben und unten, zuhause und fremd die Menschen teilt. Nadja jedoch kennt diese Klassenfrage nicht, sie streitet nicht für ihr Recht, stattdessen folgt sie weiter ihren Gefühlen. Mit subtilen, stilisierten, bedeutungsvollen Anspielungen erzählt »At Home« mit langen, ruhigen Einstellungen die Geschichte dieser bescheidenen, leisen Heldin der Nächstenliebe. Keine Grossaufnahmen, keine Gefühlsausbrüche – doch grosses, humanistisches, ja religiöses Kino!
Nadja und Tochter Iris
Athanasios Karanikolas zu seinem Film
»Die Reinheit des Herzens ist, ein solches zu wollen«, schreibt Sören Kierkegaard. Das Grundproblem des Films entwickelte sich aus einem Streit über ethische Fragen. Die Geschichte ist erfunden und entsprang dem persönlichen Wunsch, eine inspirierende Filmfigur zu schaffen. Ich hatte einen schlichten Menschen im Sinn, der eine andere Sicht auf das Thema der sozialen Ungerechtigkeit ermöglichen sollte: einen Menschen, der in einer schmerzlichen, ungerechten Lage die Kraft findet, auf positive Weise darauf zu reagieren. Ich habe eine Figur entwickelt, die an selbstlose Liebe glaubt und sich bewusst dafür entscheidet, auf Rache zu verzichten, keinen Ausgleich einzufordern, sondern zu vergeben. Aus Gründen, die ich nicht kenne, musste dies eine Frau sein, eine Immigrantin, die fern ihrer Heimat lebt. »At Home« ist nicht die Geschichte eines wohlhabenden Ehepaares, das seine ihm treu ergebene Hausangestellte schlecht behandelt. Es ist die Geschichte eines menschlichen Wesens, das einfach, rein und stark ist, die Geschichte eines würdevollen Herzens, das nur eines will.
Villenbesitzer Stefanos und Evi
Aus einem Gespräch mit dem Regisseur
Hat die Finanzkrise in Griechenland das Drehbuch beeinflusst?
Ähnliche Geschichten gibt es in Griechenland schon seit den 1980er Jahren, als die ersten Arbeitsimmigranten aus Albanien kamen und von der Mehrzahl der griechischen Familien, bei denen sie Arbeit fanden, schamlos ausgebeutet wurden. Eine Finanzkrise, wie es sie gegenwärtig gibt, verschärft nur eine Situation, die ohnehin vorhanden ist. Letztlich geht es hier nicht nur um Geld. In der aktuellen schwierigen ökonomischen Lage werden gesellschaftliche Werte korrumpiert, wodurch eine viel tiefer gehende Krise entsteht: eine Krise der Moral.
War es wichtig für Sie, dass die Hauptfigur eine Migrantin ist, die seit vielen Jahren in Griechenland, in Europa lebt?
Tatsache ist, dass Griechen nicht die Arbeiten tun wollen, die Nadja verrichtet, weil solche als erniedrigend gelten und extrem schlecht bezahlt werden. In der Regel räumen die Immigranten den Griechen den Dreck weg. Nadja musste eine Immigrantin sein, damit die Geschichte funktioniert. Gleichzeitig war es mir aber auch wichtig, eine Figur zu entwickeln, die nicht auf das Klischee der armen und ausgebeuteten Migrantin beschränkt ist. Nadja ist zugleich das Musterbeispiel eines Menschen, der sich durch Würde, Hingabe und selbstlose Liebe auszeichnet. Sie ist eine wahre Heldin, weil sie neue Verhaltensweisen vorschlägt. Für mich ist sie überlebensgross, weil sie die Kraft findet, den Menschen, die sie schlecht behandelt haben, zu verzeihen. Meines Erachtens ist Einwanderung nicht nur deshalb die zentrale Frage des 21. Jahrhunderts, weil das Thema uns zwingt, die Gesellschaft und ihre Regeln neu erfinden zu müssen, sondern unsere Vorstellung von Menschlichkeit, um noch ein Leben führen zu können, das sich zu leben lohnt.
Glauben Sie, dass Nadjas Würde ihr eine positive Lebensperspektive gibt?
Nadja ist ein Mensch mit Würde, weil sie im Innersten versteht, was selbstlose Liebe ist, und weil sie ihrer Überzeugung auf fast schon religiöse Art folgt. Ihr Freund beschimpft sie als Idiotin, weil er nicht begreift, wie sie den Menschen vergeben kann, die sie nach all den Jahren loyaler Arbeit schlecht behandeln.
Das einsame Betonhaus spielt eine zentrale Rolle in dem Film. Wie wichtig war für Sie die Wahl der Schauplätze?
Die Idee eines festungsartigen Hauses war für mich und die Bühnenbildnerin Aliki Kouvaka von Anfang an sehr wichtig. Sie hat bei den Bauten und den Kostümen wunderbare Arbeit geleistet. Die Idee eines modernen, abgeschlossenen und gewissermassen selbstbezogenen Hauses entstand im Arbeitsprozess und wurde wichtig, um die Exklusivität eines privilegierten Familienlebens herauszuarbeiten. Die Landschaft und der unbegrenzte Blick aufs Meer repräsentieren für mich etwas Gewaltiges, nicht Fassbares, etwas beinahe Spirituelles, das die Gesellschaft und ihre Normen auf nahezu metaphysische Weise transzendiert.
Interview: Manolis Kranakis
Nadja mit Freund Markos
Ein Gleichnis der selbstlosen Liebe
Präzision im Erzählen, Klarheit in der Ausführung des Themas und Darsteller, vor allem Maria Kallimani als Nadja, die ihre Figuren prägnant und fesselnd verkörpern – dies alles zeichnet »At Home«, den dritten Spielfilm von Athanasios Karanikolas, aus. Ein stilles, introvertiertes, meditatives Werk, das ins Herz trifft, weil es uns betrifft, das wehtut, aber auch hoffen lässt, da es einen Menschen wie Nadja gibt.
Der Film besteht, mit wenigen Ausnahmen, aus langen Einstellungen, ruhenden Tableaus, in deren Innerem die Geschichte abläuft. Nadja hat Augen, ein Gesicht, aus denen wir ablesen, was sie sieht und erlebt. Doch sie hat keine Stimme, keine Worte, die das aussprechen und kritisieren. Nadja steht für ein In-der-Welt-Sein, welches das Leben erduldet, wie es ist, und nicht glaubt, dass der Mensch es ändern muss, dass alles machbar und veränderbar ist. In der Politik, Medizin, Technik zum Beispiel erleben wir die (männliche) Weltanschauung, dass alles machbar sei. Dass dem nicht so ist, wird uns täglich weltweit vor Augen geführt. Nachhaltig bleibt hingegen das, was Nadja verkörpert: das (weibliche) Wachsen, zu dem Offenheit, Geduld, Mit-Sein gehören. Wächst die Pflanze? Gedeiht das Kind? Fällt der Regen? Hält die Brücke? Kommt die Botschaft an?
Diese Haltung verkörpert die Immigrantin Nadja in einer geradezu religiöse Dimension, das Wort in seinem ursprünglichen Sinn verstanden: »Religio« als Verweis auf etwas Transzendentes. Erzählt wird die Geschichte als ein Gleichnis, wie wir ähnliche aus der Bibel kennen. Der Film handelt in Griechenland und überall auf der Welt, auch bei uns.
»At Home« läuft exklusiv im Filmpodium Zürich
Donnerstag, 23.7.2015, 18:15
Freitag, 24.7.2015, 20:45
Sonntag, 26.7.2015, 18:45
Mittwoch, 29.7.2015, 15:30
Donnerstag, 30.7.2015, 20:45
Mittwoch, 5.8.2015, 15:30
Freitag, 7.8.2015, 18:15
Montag, 10.8.2015, 20:45
Freitag, 14.8.2015, 18:15
Dienstag, 18.8.2015, 18:15
Regie: Athanasios Karanikolas, Produktion: 2014, Länge: 95 min, Verleih: Filmpodium