Bratsch – Ein Dorf macht Schule

Eine Schule fürs Leben: Das Schulhaus ist leer, der Dorfladen verwaist, Bewohner:innen des Oberwalliser Bergdorfs Bratsch ins Tal gezogen. 2015 beschliessen die Verbliebenen, das Dorf mit der Schule wiederzubeleben. Norbert Wiedmer hat über das Schulprojekt von Damian Gsponer und Natascha Würsten den Dokumentarfilm «Bratsch – Ein Dorf macht Schule» gedreht, der dafür eine Lösung vorschlägt, Nachdenken über eine bessere Schule anregt und die Liebe zu diesem vielleicht schönsten Beruf verbreitet.
Bratsch – Ein Dorf macht Schule

Auch hier beginnt der Unterricht mit der Begrüssung

Bratsch – ein Bergdorf im Oberwallis

 

Im Jahr 2028 feiert Bratsch seinen 800. Geburtstag. Mit der Dorfentwicklungsinitiative «fokus800» wollen die Braderinnen und Brader die Jahre bis dann nutzen und das Dorf gezielt weiterentwickeln. «Wir wollen Projekte realisieren, die nachhaltig sind und nicht nur kurzzeitige Effekte haben», sagte der Projektleiter Mario Schnyder. «In einer Zeit, in der sich das Leben zunehmend von der Idee des Zusammenlebens hin zur Individualisierung wandelt, die stetige Globalisierung ihren Lauf nimmt und neue, virtuelle Kommunikationsformen bestimmend werden, wollen wir mit «fokus800» einen Gegenpol in Form von sozialer Verbundenheit schaffen. Freundschaft, Wertschätzung, Anerkennung, Authentizität und Geborgenheit sollen gezielt gefördert und das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Dorfgemeinschaft gestärkt werden. Der Schule Bratsch kommt bei dieser Entwicklung eine zentrale Bedeutung zu.»

Der junge Pädagoge Damian Gsponer entwickelte ein Schulkonzept, welches ideal mit der Initiative und den vorhandenen örtlichen Gegebenheiten vernetzt werden kann. Die Kinder der Schule Bratsch sollen die Welt auf aktive Art und Weise vor allem ausserhalb des Schulzimmers erkunden. Die vorhandenen Möglichkeiten in Bratsch dienen als Lernfeld. Durch die neuen Schulkinder werden Infrastrukturen besser genutzt. Leerstehende Gebäude können für schulische Zwecke verwendet oder wieder als Wohnraum angeboten werden. Junge oder werdende Familien haben die Möglichkeit, zuzuziehen und ihre Kinder vor Ort in die Schule zu schicken. Für die auswärtigen Kinder, die an anderen Orten wohnen und die Schule Bratsch besuchen, ist auch eine neue Tagesstruktur nötig. Verpflegungsmöglichkeiten vor Ort müssen weiter aufgebaut werden. Es gibt neue Arbeitsplätze. Im Laufe der Zeit wachsen Kinder mit einem persönlichen Bezug zum Dorf auf. Durch schulische Anlässe entsteht, neben den vorhandenen gelebten Traditionen, ein zusätzliches kulturelles Angebot. Das Dorf wird belebt.

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Ein Hühnerstall wird gebaut

Der Schule kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Der junge, visionäre Pädagoge Damian Gsponer erhält von der Erziehungsdirektion des Kantons Walls die Bewilligung zur Eröffnung einer für alle Kinder offenstehenden Privatschule in Bratsch. Mit seinem Konzept stellt er das gängige Schulmodell auf den Kopf und gewinnt das Interesse der Öffentlichkeit und die Herzen der Schülerinnen und Schüler. Nicht die Wissensvermittlung nach vorgegebene Lehrplan seht im Zentrum, sondern die Förderung der Kinder mit ihren ureigenen Anlagen, Talenten und Bedürfnissen. Lernen findet überall dort statt, wo sich in Bratsch Möglichkeiten anbieten und geschaffen werden können.

Der Schweizer Dokumentarist Norbert Wiedmer dokumentiert in seiner filmischen Langzeitbeobachtung die Entwicklung der Schule seit der Eröffnung 2016 und die Veränderungen im Bergdorf bis 2022. Im Mittelpunkt stehen die verantwortlichen Lehrkräfte Damian Gsponer und Natascha Würsten zusammen mit einigen Schülerinnen und Schülern. «Bratsch. Ein Dorf macht Schule» vermittelt essenzielle, für viele wohl neue Einsichten und besticht mit erfrischendem Humor und grossem Informationswert. Unter Wiedmers Regie und mit den klugen und poetischen Bildern von Patrick Bürge, der heiteren Musik von Klaus Gesing und der lockeren und verständlichen Montage von Aron Nick und Katharina Bhend ist hier ein scheinbar kleiner, in Wirklichkeit grosser Film entstanden. Er basiert auf einer menschenfreundlichen Pädagogik und ersetzt nach meiner Meinung unzählige Theorien. Nicht zufällig endet der Film mit einem oft zitierten, nur selten gelebten Zitat von Konfuzius (551 – 479 v. Chr.): «Was du mir sagst, vergesse ich. Was du mir zeigst, daran erinnere ich mich. Was du mich tun lässt, das verstehe ich.»

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Auch in Bratsch wird mit Computern gearbeitet

Aus den Anmerkungen des Autors und Regisseurs Norbert Wiedmer

(integral im Anhang)

Mein Film vereint zwei relevante Themen: Einerseits die sich zunehmend abzeichnenden Probleme, bedingt durch das leistungsorientierte Schulsystem. Andererseits die Entvölkerung in abgelegenen Dörfern, insbesondere in Berggemeinden. Schweizweit ist eine deutliche Zunahme der Abwanderung aus kleinen Gemeinden in Richtung grosser Agglomerationen festzustellen. Eine solche Entvölkerung trifft vor allem die Bergdörfer. Als Folge davon müssen Schulen geschlossen und Linien des öffentlichen Verkehrs eingestellt werden.

Die Volksschule war während 100 Jahren ein unbestrittener Erfolg. Dann aber machte die Wirtschaft in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts erneut eine tiefgreifende Veränderung durch. Hatte sich die Schweiz im 19. Jahrhundert von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft gewandelt, entwickelte sie sich zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Das Bildungssystem reagierte auf diese Veränderungen so lange nicht, bis ein Schock die Gesellschaft aufrüttelte: Beim Erscheinen der ersten PISA-Studie vor gut 20 Jahren, musste die Schweiz mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen, dass sie keineswegs an der Spitze der Liste der beurteilten Länder stand. Unschweizerisch schnell wurde eine Neuorganisation des Schulwesens in Gang gesetzt. Neue umfangreiche Lehrpläne wurden entwickelt und Prüfungsstandards festgelegt.

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Gartenarbeit ist in dieser Schule nicht ungewohnt

Die Lehrerschaft äussert inzwischen grosse Zweifel an diesen Reformen. Ihre Kritikpunkte sind Praxisferne, überfüllte Lehrpläne, zunehmend grössere Klassen, aufwendigerer Kontakt zu Eltern und überbordende Bürokratie. Es droht ein Unterricht, in dem nur noch behandelt wird, was zum guten Abschneiden in Tests nötig ist. Die Schule wird so auf ihren Beitrag zur Produktion von Humankapital für die erfolgreiche Bewältigung einer sich schnell verändernden Gesellschaft reduziert. Ein Steuerungswahn macht sich breit, der suggeriert, durch Intensivierung der Kontrolle lasse sich erreichen, was durch Vertrauen in die Professionalität des Lehrerhandelns nicht erreichbar sei.

Leidtragende sind neben den Pädagoginnen und Pädagogen vor allem die Kinder. Es gab noch nie so viele kranke Schüler. Jedes fünfte Kind leidet an Bauch- und Kopfschmerzen, Schlaf- und affektiven Störungen. In der Selektionsphase für weiterführende Schulen nehmen Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätsstörungen zu. Der Anteil der Schüler mit sonderpädagogischen Bedürfnissen wie Logopädie- und Dyskalkulie-Therapie verdoppelte sich in den vergangenen fünfzehn Jahren. Schulverweigerer und suizidgefährdete Schüler beschäftigen Kinderärzte und Kinderpsychiater. Auch die meisten Eltern erleben die Schule als Belastung. Sie sorgen sich um die Zukunft und die Gesundheit ihrer Kinder und sind, ob sie wollen oder nicht, Teil des Systems.

Mit einem Film über eine Schule, die unser Schulsystem auf den Kopf stellt, will ich der Frage nachgehen, ob selbstbestimmtes, druckfreies Lernen Kinder genauso gut, aber wesentlich praxisnaher und humaner, auf das Erwerbsleben vorbereiten und dabei erst noch einen Beitrag zur Wiederbelebung eines Bergdorfes leisten kann.

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Die Beziehung mit den Kindern ist und bleibt das Wichtigste

Weiterführende Informationen

Aus einem Gespräch mit dem Pädagogen Damian Gsponer

Webseite der Schule Bratsch

SRF-Beitrag «Privatschule soll neues Leben nach Bratsch bringen»

Regie: Norbert Wiedmer, Produktion: 2022, Länge: 92 min, Verleih: Filmcoopi