Coeur animal

Verschüttete Menschenliebe

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Rosine, das geliebte und dennoch verschmähte Opfer.

«Coeur animal», der erste lange Film von Séverine Cornamusaz, wurde am 6. März 2010 als bester Spielfilm mit dem «Quartz» ausgezeichnet. Der Film ist hart wie der Quarz und zart wie das Licht, das der Quarz reflektiert. Hart und brutal verhält sich fast durch den ganzen Film der Bauer Paul zu seiner Frau. Zart wird er erst, wenn sich langsam gegen Schluss seiner Verwandlung ankündigt. Der Ort der Handlung: Eine kleine Alp, die Paul (mit dem «Quartz» als bester Darsteller ausgezeichnet) und Rosine bewirtschaften, und der Spanier Eusebio. Als der Bergbauer den Saisonarbeiter einstellt, ändern sich die Dinge. Paul, der vom Rhythmus der harten Tagesarbeit geprägt ist und seine Tiere besser behandelt als seine Frau, wird vom offenen und unverkrampften Spanier verunsichert. Zum ersten Mal kommt in Paul das Gefühl der Eifersucht auf und seine geordnete Welt gerät ins Wanken. Unfähig, über seine Gefühle zu sprechen, provoziert er einen Streit und wird handgreiflich gegenüber Rosine. Als sie ins Krankenhaus eingeliefert wird, kommt für Paul der Moment, wo er sich mit seinen Fehlern und Ängsten auseinander zu setzen beginnt.

So läuft die Geschichte ab, wenn man sie vom (positiven) Ende her erzählt. Wenn man sie unvorbereitet erlebt, schockiert einen vor allem der verschlossene und brutale Paul und erweckt seine Frau Rosine als Opfer Mitleid. Erschrecken und Unmutbekundungen im Kino bestätigen mein Empfinden. Dieser Widerspruch kommt wohl daher, dass die Regisseurin ihren Paul liebt und sich auch schon lange mit ihm auseinander gesetzt hat. Wir hingegen nähern uns nur langsam der Person, bis auch wir mit Anteilnahme und Empathie Paul sympathisch finden. Aus Mitleid kann Sympathie entstehen – wenn wir uns wirklich mit den Personen auseinander setzen.

Auf dem Weg zu einer andern Wahrnehmung

Diese Auseinandersetzung bildet den Kern des Films «Coeur animal»: Auf den Weg gehen, um durch die Härte und Brutalität hindurch allmählich zu entdecken und zu spüren, dass dies ein Ausdruck von Unterentwicklung, von Schwäche, von widrigen Umständen sein kann. Bis Paul allmählich anders, nämlich als bemitleidenswertes Opfer wahrgenommen werden kann. Warum ist das so? Wer stand am Anfang dieser Entwicklung? Was hat ihn zu dem gemacht, was er ist? Das zeigt der Film nicht, genau so wie solches auch im realen Leben nur selten offen und ersichtlich, offensichtlich ist. Das ist unsere Arbeit beim Sehen des Films. Vielleicht war es eine frühere unglückliche Beziehung? Oder eine gefühlskalte, Gefühle abtötende Erziehung? Oder die Umwelt, die Härte der Arbeit, die Einsamkeit? In diesem Prozess – Filme anschauen ist immer ein intra-personaler Kommunikationsprozess – widersetzt sich «Coeur animal» dem lauten Gezeter und Geschrei ohne genaue Informationen bei Meldungen von Gewaltakten, wie sie uns Auflagen steigernd von den Medien vermittelt werden. Dieses Thema in den Fokus genommen zu haben, ist das grosse Verdienst dieses Films. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich entschuldige keine Gewalt, bin selbst für Gewaltlosigkeit. Doch Härte, Gefühllosigkeit, Kälte und Brutalität sind der Endpunkt einer Entwicklung, einer langen Ursachen-Folge-Kette, die unserer Wahrnehmung und unserem Bewusstsein meist verborgen bleibt. Die eine Seite, das Opfer, erscheint im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, die andere, der Täter, verschwindet im Nebel des Unwissens. Doch bereits die römische Justiz verlangte, dass man auch die andere Seite hören müsse: «Audiatur et altera pars.»

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Eusebio (links), der Paul hilft, sich zu ändern.

Hilfen für die Nachsicht

Die Autorin gab in einem Pressetext und in einem Interview Erklärungen ab, die für ein Verständnis dieser andern Sicht werben. Auf das Votum eines Journalisten, «Ein Paar wie in „Coeur animal“ ist schwer vorstellbar: Paul mit seinen unausgereiften Gefühlen und die zarte und offene Städterin Rosine. Ausserdem reagiert Paul mit Gewalt. Ist Rosine demnach als Opfer zu betrachten?», antwortet die Autorin wie folgt:

«Ich habe noch nie eine Sekunde an dieses Binom Henker/Opfer geglaubt. Paul ist für perverse Gewalt zu wenig „raffiniert“. Er ist emotional behindert und kaum sozialisiert. Der Umgang mit seinen Tieren fällt ihm leichter. Rosine ist sensibler, man kann sich aber trotzdem vorstellen, dass sie aus ihrem Umfeld geflüchtet ist. Anfangs handelte es sich um eine Liebesgeschichte – Liebe auf den ersten Blick. Ich stelle mir vor, dass Paul und Rosine schöne gemeinsame Zeiten erlebt haben. Doch als der Film beginnt, sehen wir ein problembelastetes Paar. Die Beziehung ist schlecht, weil Paul durch das, was ihm entgeht, die Orientierung verliert. Wenn er keine Kontrolle über die Dinge mehr hat, wird er gewalttätig. Es fehlen ihm die Mittel, um affektive und menschliche Situationen zu bewältigen.»

Auf die Frage, man habe den Eindruck, Sie seien sehr empathisch mit Paul, antwortet die Autorin: «Zuerst sehen wir ihn als Monster. Man kann ihn unmöglich gern haben, umso mehr als wir alles ausschliesslich aus seinem Blickwinkel sehen. Man möchte sich dauernd gegen ihn auflehnen. Doch nach und nach spüren wir seinen tiefen Schmerz und beginnen mitzuleiden. Auch wenn uns seine Handlungen abstossen, lernen wir, ihn zu mögen, und das ist das Ziel des Films! In meinen Filmen ziehe ich rauhe, derbe Menschen den Menschen ohne Ecken und Kanten vor, auch wenn ich nie mit Paul in den Urlaub fahren möchte!»

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Unter den Kühen fühlt sich Paul verstanden und wohl.

«Menschen, die ihre gesellschaftliche Maske abgelegt haben, interessieren mich ganz besonders, da sie einem ermöglichen, die Realität der gespannten, von Liebe und Hass geprägten Beziehungen eines Paars unbeschönigt und direkt zu schildern. Mit seiner Brutalität und seinen archaischen Reaktionen ist Paul ein gutes Beispiel für diese Mechanismen, die letztlich universell gültig sind.»

«Eine Ambition des Films ist, die Spannungen, die Bedrängnisse zu erforschen und die tiefe Liebe, die Paul und seine Frau trotz allem verbindet, zu zeigen. Eine in all den Jahren der Misshandlungen verzerrte und verleugnete Liebe, die ihren Ausdruck nicht finden konnte.»

«Als weitere Ambition möchte der Film dem Betrachter Pauls Standpunkt näher bringen und Verständnis für dessen Schmerz wecken. Dies ist nicht einfach, denn vorerst zeigt Paul keine heldenmütigen Züge, er ist vielmehr ein derber, ruchloser und unangenehmer Antiheld (…). Und dennoch: Seine innere Zerrissenheit, sein Kampf zwischen dem, was sein muss und was sein kann, und sein von Widersprüchen durchsetzter Versuch, seine Beziehung zur Umwelt zu verändern, beginnen einen mit der Zeit zu rühren.»

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Eusebio (links), der Paul hilft, sich zu ändern.

«Es begann alles mit einer Familiengeschichte. Einer Geschichte, die mir meine Mutter erzählte und die von ihren Eltern handelte und sich Anfang der 1960er-Jahre in den Bergen abspielte. Schon immer hatte ich Lust, einen Film zu diesem Thema zu machen. Und als ich mich wieder einmal mit diesem Gedanken trug, stiess ich auf das Buch («Rapport aux bêtes») von Noëlle Revaz. Nach zwei Seiten war ich bereits in Paul verliebt! Abgesehen davon war mir das im Buch beschriebene Universum sehr vertraut. In meiner Naivität sagte ich mir, dass es viel leichter sei, ein Buch für einen Film zu adaptieren als eine Familiengeschichte, die sich über fünf Jahre erstreckt und von heranwachsenden Kindern geprägt ist. Übrigens habe ich den Film ihr gewidmet, und die Protagonistin Rosine trägt ihren Vornamen.»

Mitleid mit dem Opfer ist selbstverständlich; Mitleid mit dem Täter ein Akt eines höheren Wertes, basierend auf einem tieferen Verständnis. Denn ohne juristische und psychologische Detailinformationen sehen wir stets nur die Oberfläche. Und zieht man dann noch die Erkenntnisse der modernen Gehirnforschung herbei, die zum Schluss kommt, dass es keinen freien Willen gebe, merkt man, wie leicht wir urteilen und verurteilen, obwohl wir eigentlich Mitleid oder Trauer haben müssten, wie Agnes in August Strindbergs «Traumspiel», wo es heisst: «Es ist schade um den Menschen», geschrieben ein Jahr nach Freuds «Traumdeutung», während wir drei Jahr nach Wolf Singers Satz, «Das Gehirn ist ein Orchester ohne Dirigent» immer noch mit dem freien Willen all unsere zwischenmenschlichen Probleme zu lösen versuchen.

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Eine selten friedliche Landschaft, neben vielen bedrohlichen und traurigen.

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