Das Fräulein

Die drei Frauen Ruza (50), Mila (60) und Ana (22) verkörpern drei Generationen Ex-Jugoslawiens. Gleichzeitig stehen sie für verschiedene Befindlichkeit von Menschen aus Serbien, Bosnien, Kroatien in einem fremden Land wie dem unsern.

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«In meinen Filmen konzentriere ich mich bewusst auf innere Welten. Ich zeige Entwurzelung von Menschen und die Verwurzelung an einem neuen Ort», sagt Staka. Die damit verbundenen Leiden und Verletzungen, Sehnsüchte und Freuden – und letztlich die Geheimnisse ihres Lebens – zeigt sie in einem wunderbaren Werk von hoher ästhetischer Qualität: leise angedeutet, indirekt beschrieben, das Wesentlich stets erahnbar und spürbar. Genau so wie oft auch im Leben wesentliche Dinge kaum wahrgenommen, wirklich eingestanden und ausgesprochen geschehen.

Der in Locarno und Sarajewo ausgezeichnete Film der Schweizerin Andrea Staka (33) ist eine feinsinnige Studie über Heimat und Heimatlosigkeit. Seiner Welthaftigkeit wegen ist «Das Fräulein» ein Zeitdokument der besonderen Art!

In einem Restaurant in Zürich, «in der Kantine des Lebens» (wie es Hans Jürg Zinsli formuliert) treffen sich drei Frauen. Ruza (das «Fräulein») führt das Lokal, sie kam vor einem Vierteljahrhundert voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft in die Schweiz, doch heute hat sie nur noch eine Passion: ein Leben in geordneten Bahnen und ihre täglichen Einnahmen. Mila, ihre langjährige Angestellte, die mit ihrer Familie seit Jahrzehnten in der Schweiz lebt und hart arbeitet, träumt indes immer noch für die Jahre nach der Pensionierung vom eigenen Haus in Kroatien. Das ruhige und geregelte Leben der beiden und der Betrieb in der Kantine gerät aus den Fugen, als die junge Ana ins Lokal und in ihr Leben tritt, schön, rastlos, eigenwillig und lebenshungrig, obwohl vom Krieg geprägt und an einer Krankheit leidend.

Intim persönlich und allgemein verbindlich

Mit ihrem ersten Langspielfilm legt Andrea Staka ein durch und durch persönliches Werk vor, das auf Erfahrungen schöpft, welche die Autorin, die in der Schweiz aufgewachsen ist und deren Familien aus Bosnien und Kroatien stammen. Er gibt intime Einblicke in das Leben von drei Frauen, die aufeinander treffen, für eine kurze Zeit Nähe erleben und sich wieder trennen. «Dabei werden ihre Verletzungen und Abgründe, aber auch Wünsche und Sehnsüchte sichtbar», schreibt die Autorin.

Hier gilt, was Valéry wohl meinte, als er schrieb, dass Aussagen eines Kunstwerkes umso objektiver seien, je subjektiver sie erlebt und mitgeteilt werden. Je intimer und persönlicher, desto allgemein verbindlicher und allgemein menschlicher kann ein Werk sein. Subjektiv und objektiv werden deckungsgleich. Im Einzelnen spiegelt sich das Ganze, das Ganze steht für das Einzelne. In einem Finger sei die ganze Welt enthalten, meinte Einstein.

Heimatlos in der Heimat

Wie der Regisseurin im privaten Leben geht es den Protagonistinnen im Film um Heimat suchen und finden, Heimat verlieren und vermissen. Das trifft auch uns, das betrifft uns. Denn, so frage ich mich: Ist das nicht eine der Kernfragen unserer Zeit, einer Epoche der weltumspannenden Völkerwanderungen? Der Film stellt einen künstlerischen Diskurs dar über dieses politische und gesellschaftliche Phänomen. Und gleichzeitig stellt er die Frage so generell und radikal, dass sie, angesichts einer Welt der (sich wandelnden) Werte, welche uns ebenfalls Heimat geben oder wegnehmen kann, schliesslich zur Frage der «religio», einer höheren «Bindung» führen kann.

Diese vielschichtigen und mehrdeutigen Antworten auf die Fragen nach Heimat erhalten wir im Film mit Bildern, Tönen, Farben, Bewegungen, Gesten, der Mimik, dem Spiel der exzeptionellen Darstellerinnen, mit Räumen, Orte, dem Dekor: mit allen Mittel der Filmsprache. Die Erlebnisse der Filmemacherin und der Männer und Frauen ihres Films ereignen sich in Landschaften, die zu «Seelenlandschaften» werden, und sie erreichen uns ganzheitlich, werden zu eigenen Erlebnissen.

Von der Befindlichkeit unserer Welt

«Das Fräulein» ist für mich eine der stärksten Schilderungen der Befindlichkeit unserer heutigen Gesellschaft. Ein Film wie dieser, dessen Botschaft aus unzähligen kleinen und grossen Erfahrungen und Erlebnissen in eine künstlerische Form gegossen werden, zeigt uns eine heutige – und eine morgige Welt, die wir zur Kenntnis nehmen sollten. Denn ich bin der Meinung, dass, wenn überhaupt jemand,  die Kunst es schaffen kann, die Zukunft zu erahnen. Die Botschaften dieses Films sind für mich umfassender und tiefer als viele noch so gescheiten Abhandlungen, intellektuellen Diskurse und empirischen Untersuchungen. Was Andrea Stake mit «Das Fräulein» spielt, ist Welttheater!