Das Licht
Farrah (Tala Al-Deen) vor der Lichttherapielampe
«Wir sitzen da wie gerupfte Hühner»
Tom Tykwer an der Premiere seines Films «Das Licht» an der Berlinale sprach wie folgt: «Wir sitzen da wie gerupfte Hühner, total zerzaust, überfordert mit den ganzen Widersprüchen, die uns in den letzten zehn, zwanzig Jahren überrollt haben. ... Europa ist fragil geworden. Demokratie steht tatsächlich wieder als Idee zur Debatte beziehungsweise infrage. ... Ökologisch ist man abgehängt vom Schritthalten mit dem, was in der Natur passiert. ... Alle sehen, dass sich momentan Kräfte formieren, die auf eine Zersplitterung der Gesellschaft zielen. Sie sehen den Zusammenhalt nicht als vorderstes Ziel, sondern haben erstmals einen Zug zu Ab- und Ausgrenzung. ... Wir unterwerfen uns der fortschreitenden Herrschaft von Markt und Kapital. Das ist für mich schockierend, wie sehr sich viele von uns dem ergeben, dass der freie Markt die grösste Machtkonstante der Gegenwart ist.»
Familie Engels vor dem Ende
Im Anflug auf Berlin
Der neue Film von Tom Tykwer, dem Schöpfer von «Lora rennt» (1998), «Das Parfüm» (2006) und seit 2017 der TV-Serie «Babylon Berlin», schildert eine typisch deutsche Familie in einer Welt, die ins Wanken geraten ist: die Eltern Tim und Milena, die die Welt retten wollen, ihre gemeinsamen Zwillinge Jon und Frieda sowie Milenas Sohn Dio. Das sind die Engels, die sich fremd geworden sind, kaum etwas hält sie mehr zusammen. Als nach dem unerwarteten Schlaganfall der polnischen Haushälterin die geheimnisvolle syrische Nachfolgerin Farrah in ihr Leben tritt, stellt diese die Familie auf eine unerwartete Probe und bringt Gefühle und Nöte ans Licht, die lange verborgen waren. Sie verfolgt einen geheimnisvollen Plan und braucht dafür ein mysteriös blinkendes Licht, womit ihr Leben für immer verändert wird.
Der Regisseur behandelt, zusammen mit einem eingespielten Team und einem enormen technischen und formalen Aufwand, am Beispiel einer Familie und ihrem Umfeld all die grossen Themen unserer Zeit: Im Chaos der zerbrechenden bürgerlichen Ordnung erkundet er in einer überwältigenden Gleichzeitigkeit das Bedürfnis der Menschen nach Halt und Zugehörigkeit.
«Das Licht» ist ein Filmmonster, das uns überfällt: Fantasievoll inszeniert und hervorragend gespielt; allen voran brillieren Lars Eidinger und Nicolette Krebitz als Elternpaar. Alles in allem ein aufwühlender, berührender, faszinierender, verunsichernder und nachdenklicher Film, der einen nach dem Abspann noch lange verfolgt.
Tim (Lars Eidinger)
Tom Tykwer zu seinem Film
Es ist ein persönlicher, emotionaler und politischer Film geworden, der auf eine greifbare und nachvollziehbare Weise mehrere Finger in die offenen Wunden unserer Gesellschaft legt. Hier wird gestritten, gerungen und gekämpft, aber auch gelacht, gesungen und getanzt. Und das Spektrum der Gefühle und Gedanken fordert die entsprechenden erzählerischen Möglichkeiten heraus und versucht damit, ihre Zerrissenheit und gleichzeitige Verbundenheit für das Publikum zu spiegeln und spürbar zu machen.
Seit der Wende zum Millennium hat diese neue Entwicklung begonnen, die uns zu entwurzeln droht: mich, mein Umfeld, einen bedeutenden Teil dieser Generation. Zunächst wollte es uns nicht auffallen. Wir lebten in der Blase, in der wir uns am richtigen Platz glaubten, uns gut etabliert zu haben schienen. Das Liberale und Weltoffene befand sich, in unserem Sichtfeld, auf dem Vormarsch, dachten und glaubten wir. Immer mehr Menschen in Europa würden in der Lage sein, ihr Leben nach ihrer Vorstellung zu entfalten, synchron dazu würde sich der Zusammenhalt verstärken. Und ohne dass wir es verstanden oder überhaupt gemerkt haben, ist uns diese Vision entglitten. Oder wir haben sie verloren, weil wir nicht wirklich um sie kämpften. Wir dachten, das wird schon alles klappen, irgendwie.
Aber es klappt immer weniger. Das ist eine generationenspezifische Erfahrung, die uns allen langsam und sehr ungemütlich ins Bewusstsein rückt und die wir noch gar nicht einzuordnen wissen. Wir sind überfordert von dieser Verunsicherung, weil wir auch nicht wirklich glauben, dass wir viel falsch gemacht haben. Aber was mag es denn gewesen sein, dass es so schlecht gelaufen ist? Nun sagen es uns die Kinder: Es ist das Resultat einer grenzenlosen Achtlosigkeit.
Ich wünsche mir, dass dieser Film jene stille Wucht entfaltet, die solchen Erkenntnissen innewohnt. Sodass man am nächsten Morgen aufwacht und der Film noch intensiver am Werk ist, als man ihn ursprünglich empfunden hat. Ich wollte einen Film machen, der nachwirkt, weil er vordergründig eine emotionale und politische Geschichte erzählt, aber hintergründig ein archaisches Loch reisst.
Milena (Nicolette Krebitz)
Ein anderes Kino für eine anderes Publikum
Der Film überfällt mich und wohl auch Sie mit einem bunten und bewegten Figurenpanorama, beginnend mit der polnischen Putzfrau, den Scharen von Menschen in afrikanischen Slums, einem Zukunft-Thinktank, taucht ein in eine virtuelle Realität und weiter in einen antikapitalistischen Club. Der Plot folgt den Spuren all dieser Beteiligten, um daraus einen emotional und informativ schlüssigen Teppich zu knüpfen, bis Farrah, die neue, aus Syrien geflüchtete Haushälterin, geheimnisvoll, fremd und dominant, die Menschen in einen dramatischen Schluss hineinkatapultiert.
Die nächste Generation meldet sich
Mit Lust ins Chaos
Der Film nimmt uns mit auf eine urbane Odyssee, angesiedelt in und unter und über Berlin, erfüllt mit einem Bild- und Ton-Rausch, mit dokumentarischen und surrealen Szenen, samt Musical- und Fantasy-Einlagen und unter anderem mit Freddie Mercury & The Queen und ihrer «Bohemian Rhapsody», deren «Nothing really matters» sich hier ins Gegenteil, «All is really matter», kehrt. Und draussen regnet es fast die ganze Filmdauer wie aus Kübeln.
Die 163 Minuten enthalten, geschätzt, Material für fünf Filme, waren hier jedoch nötig für die zahllosen, sich aufdrängenden Inhalte, die in den ausufernden und implodierenden Handlungen und Nebenhandlungen daherkommen. Diese Mächtigkeit ist für den Film wichtig, da es dies alles im Leben gibt, das uns beschäftigt, fordert, herausfordert, überfordert, also hier abgebildet werden muss, verrückt, lustig oder traurig. Manches wird ausformuliert, manches angespielt, einiges handelt im Vordergrund, anderes im Hintergrund. Denn wie es so ist im Leben: Man kriegt vieles mit, hat aber niemals alles im Blick.
Wir erhalten, auch wenn wir danach verlangen und suchen, keine Antwort auf die vielen während des Films auftauchenden Fragen, sondern werden abgespeist mit vorläufigen Vermutungen, in Tat und Wahrheit mit immer neuen Fragen. Hoffentlich erhalten wir diese Denkanstösse nicht allein und einsam, sondern mit anderen, wenn möglich mit Freunden und Freundinnen zusammen ̶ so wie im Film.