Die Tabubrecherin

Leben sammeln, nicht Jahre: Nachdem Michèle Bowley die Diagnose Krebs erhalten hatte, machte sie sich auf ihren letzten Weg. Mit dem Film «Die Tabubrecherin» begleiteten sie Erich Langjahr und Silvia Haselbeck, und es entstand das eindrückliche Dokument einer dem Leben und Sterben gegenüber mutigen und neugierigen Frau: informativ, berührend, herausfordernd
Die Tabubrecherin

Die 1966 geborene Michèle Bowley arbeitete unter anderem in Basel als Gesundheitspsychologin und in Zug im Amt für Gesundheit als Projektleiterin. Am 7. September 2023 hätte sie das «Café d’Bauhütte» eröffnen sollen; die Diagnose Krebs stoppte dies. Die 57-jährige Frau weiss um ihr Ende, stellt sich der Krankheit, dem Unabänderlichen, dem Sterben und begegnet der neuen Situation auf ihre persönliche Art. Im Dokumentarfilm «Die Tabubrecherin» nehmen uns Erich Langjahr und Silvia Haselbeck mit auf eine Reise ins Unbekannte. «Ich sammle Leben, nicht Jahre» bleibt bis zum Ende ihr Motto. Sie stellt sich den medizinier Behandlungen und holt sich spirituelle und bei befreundeten Menschen persönliche Hilfe. So findet sie in der neuen Situation zu sich. Für Michèle ist das Sterben ein Abenteuer, auf das sie sich einlässt und das sie bis zum letzten Moment auskosten will. Der sorgfältig und einfühlsam gestaltete Film lässt wohl niemanden kalt, da er, von Mut und Zuversicht geprägt, das Wesentliche des Daseins von uns allen behandelt.

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Die Protagonistin, der wir im Film meist frontal gegenüber sind, will wissen, wie das Sterben einmal sein wird. Sie liess sich in einem Krematorium eingehend informieren. Schon vor Jahren hat sie sich ihre eigene, mit einer Spirale verzierte Urne getöpfert, für ihr Begräbnis sich schon früh das Lied «My Way» ausgewählt. Zu einem Abschiedsfest hat sie, als Vorwegnahme der Abdankung, 60 Personen eingeladen. Jede Konfrontation mit dem Sterben beinhaltet für sie den Entscheid, das Leben intensiv zu leben. Erst wenn das Sterben zugelassen wird, ist das Leben möglich.

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Ihre Prognose hiess noch etwa 6 Monate zu leben. Diese Zeit will sie mit offenen Augen erleben. Als professionelle Gesundheitspsychologin und Führungskraft hatte sie ihr Leben meist unter Kontrolle. Jetzt aber kommt eine Zeit, in der ihr dies nicht mehr immer gelingt. Doch sie freut sich weiter am Leben, das sie noch hat, auch wenn ihr mal Tränen kommen und ihre Stimme versagt, wenn sie sich an die schönen Zeiten und die lieben Menschen erinnert, die sie bald verlassen muss. Es hilft ihr, dass sie die Krankheit und die Therapien kennt, die sie intensiv nutzt.

Neben der Medizin lässt sie sich auch spirituell unterstützen, etwa mit einer Klangschalen-Therapie, mit Didgeridoo-Musik, Handauflegen und Massage. Mit einer Freundin erkundet sie, was einmal mit ihrer Asche geschehen soll. Während der Zeit, in der es ihr besser geht, schreibt sie das Buch «Volle Pulle Leben» (als Taschenbuch und E-Book bei Orell Füssli erhältlich), den Gedichtband «Einlassen und Loslassen» und ist weiter auf ihrem Blog präsent. Für die letzte Zeit wünscht sie sich, dass ihr Ex-Mann Rulli Rudi bei ihr sein kann. Denn Exit ist für sie keine Option. Das Leben dauert für sie bis zum letzten Atemzug.

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Allmählich geht es Michèle schlechter, die Metastasen haben sich überall in ihrem Körper festgesetzt, nicht nur im Hirn, wo sie behandelt wurde. Sie bekommt Gleichgewichtsprobleme, braucht physiotherapeutische Hilfe und erhofft vom Onkologen Milderung der starken Beschwerden. Sie sieht den Screen ihres Hirns, das palliativ behandelt wird. Dabei wird nicht gegen den Krebs gekämpft, sondern gilt es, mit ihm zu leben und die Schmerzen zu mildernd. Sie bespricht ihre Todesanzeige.

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Michèles will verstehen, was der Krebs macht. Dafür hat sie immer wieder Mediziner gefunden, die diese Fragen intensiv angehen, Anteil nehmen an ihrem körperlich-seelischen Zustand und ihr damit helfen. Psychologisch bedeutet das für sie, proaktiv vorzugehen: annehmen, nicht abwehren. Lebenslang hat sie ihre psychische Gesundheit auf diese Weise gestärkt. Wenn es ihr besser geht, hält sie auch mal einen Vortrag vor Fachleuten und Laien, die von ihren Erfahrungen für sich oder für andere lernen wollen.

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Ein Symbol begleitet sie das ganze Leben: die Spirale, die von innen nach aussen und von aussen nach innen führt und Harmonie ausstrahlt. Im Wald erlebt sie den Einklang mit der Natur. Als es ihr wieder besser geht, schwimmt sie ein paar Züge im Rhein. Die Immuntherapie, die sie neu bekommt, macht sie müde, aber dennoch freut sie sich weiter am Leben. Wenn auch diese Therapie nichts mehr nützt, wird sie abgesetzt, dann wird sie in absehbarer Zeit sterben, was für sie ok ist. Sie hofft, dass das Sterben relativ kurz und schmerzlos sein wird. Am Telefon bittet sie zwei Personen, dass sie zu ihr kommen und so lange bleiben, bis das Sterben naht. Dann stirbt sie friedlich.

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Meist ist Michèles Gesicht im Mittelpunkt des Bildes. Doch gegen Schluss zeigt die Kamera mehr und mehr auch die Gesichter der andern Anwesenden. Wir sehen deren Reaktionen und erleben uns im Kreise der Freundinnen und Freunde, konfrontiert mit den Antworten auf deren Gesichter auf das Sterben der «Tabubrecherin» – und vielleicht auch schon für Momente mit den Antworten auf unser eigenes irgendwann bevorstehendes Sterben.

Regie: Silvia Haselbeck und Erich Langjahr, Produktion: 2024, Länge: 89 min, Verleih: Langjahr Film