Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer

Die Geschichte der Einwanderung in die Schweiz: Der 1955 in Baghdad geborene Schweizer Samir hat mit seinem 130-minütigen Film «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» den Kulturtransfer durch Migration in die Schweiz originell beschrieben und kritisch hinterfragt.
Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer

Samir hat Filme gedreht, aber auch produziert, hat sich zur Filmpolitik geäussert, aber auch selbst gemacht. So gibt es wohl keine bessere Einführung in seinen neuen Film als sein folgender Text:

Warum dieser Film? – Anmerkung des Regisseurs

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Das Private ist politisch


Als Kind der 68er-Generation habe ich stets aktiv an gesellschaftlichen Ereignissen teilgenommen. In meinen Dokumentarfilmen beschäftige ich mich daher mit der Frage, ob und wie ich mein persönliches Erleben und meine politische Reflexion in die künstlerische Arbeit integrieren kann. Der Ausgangspunkt für diesen Dokumentarfilm ist der bekannte 68er-Leitsatz: «Das Private ist politisch».


Bereits 1992 versuchte ich in «Babylon 2» mithilfe von persönlichen Beobachtungen zu zeigen, wie junge migrantische Menschen in der Schweiz eine eigenständige neue Kultur entwickeln. Der Film prägte und etablierte den Begriff «Secondos». In «Forget Baghdad» (2002) habe ich durch die Suche nach ehemaligen jüdischen Genossen meines irakischen Vaters den Nahost-Konflikt thematisiert. Und mit «Iraqi Odyssey» (2015) erzählte ich die Geschichte meiner irakischen Familie, die sich durch die britische Kolonisation, endlose Kriege und imperiale Interventionen gezwungen sah, zu fliehen und sich über die ganze Welt verstreute. Dabei zeigte sich, wie tief sich politische Ereignisse in die private Geschichte einer Familie einbrennen.

In «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» wollte ich meine Lebenszeit als Migrant in der Schweiz nicht nur als persönliches Resumé gestalten. Wichtig war mir die Aufarbeitung der Schweizerischen Arbeiter-Bewegung, deren Teil ich mal war, und diese in all ihren Widersprüchen darzustellen. Ich bin selbst einer von vielen Zeitzeugen bedeutender historischer Ereignisse und gehöre zu den migrantischen Arbeitskräften, welche die Infrastruktur und Kultur der Schweiz in den letzten 70 Jahren grundlegend verändert haben. Die Recherchen zeigten, dass die Ursprünge der xenophoben Politik in der faschistischen Bewegung der 20er- und 30er-Jahre liegen. Der Film nimmt dezidiert die Sichtweise der sogenannten «Gastarbeiter» ein, welche den roten Faden der Narration bildet.


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Hommage


Nicht zuletzt ist der Film auch eine Hommage an alle meine Vorgängerinnen und Vorgänger aus dem Schweizer Filmschaffen. Ich durfte viele Ausschnitte aus ihren zum Teil unbekannten oder vergessen gegangenen Arbeiten benutzen. Durch ihr scharfes Auge konnte ich die damaligen Verhältnisse aufzeigen und in den aktuellen Kontext einordnen. Ich stehe auf ihren Schultern und möchte ihnen mit diesem Film meine Reverenz erweisen.

Für die Jugend


Ein weiterer persönlicher Antrieb für diesen Film ist meine Tochter und ihre Generation der 20-Jährigen. Obwohl sie durch den Klimastreik und antirassistische Bewegungen politisiert wurde, wusste sie kaum etwas über die jüngere politische Geschichte der Schweiz. In der Schule wurden die Schwarzenbach-Jahre nicht behandelt, und als wir durch den Gotthard-Tunnel fuhren, war ihr nicht bewusst, dass Hunderte italienische Arbeiter bei dessen Bau verletzt oder getötet wurden. Ihr war auch die fortlaufende Segregation der migrantischen Bevölkerung durch immer schärfere Gesetze nicht bewusst. Sogar dass Auberginen, Zucchinis und Pasta erst seit Kurzem zur Schweizer Küche zählen, wusste sie nicht.


Genug der Gründe, der jungen Generation die Geschichte des Kulturtransfers durch Migration und deren politische und historische Hintergründe zu erzählen.

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Eine Auswahl der von Samir zitierten fremden Filme

 

Il valore della donna è il suo silenzio, Gertrud Pinkus, 1980
Cerchiamo, per subito Operai offriamo, Villi Hermann, 1974
Siamo Italiani, Alexander J. Seiler, June Kovach and Rob Gnant, 1964
Tutte le domeniche mattina, Carlo Zuzii, 1972
Don Camillo e Peppone, Julien Duvivier, 1952
Unser Mitbürger Christian Caduff, Kurt Früh, 1955
Bäckerei Zürrer, Kurt Früh, 1957
Il rovescio della medaglia, Alvaro Bizzarri, 1974
La suisse s'interroge, Henri Brandt, 1964
Lo stagionale, Alvaro Bizzarri, 1973
Krawall, Jürg Hassler, 1968
La classe operaia va in paradiso, Elio Petri, 1971
Braccia si, uomini no, Peter Ammann, 1970
Le train rouge, Peter Ammann, 1972
Le associazioni italiane in Svizzera, Morena la Barba, 2007
Ein Streik ist keine Sonntagsschule, Mathias Knauer, Hans Stürm, 1974
Die Schweizermacher, Rolf Lyssy, 1978
Circuito Chiuso, Giuliano Montaldo, 1978
Züri brännt, Videoladen, 1981
Unsere Eltern haben den Ausweis C, Eduard Winiger, 1982
Das neue Evangelium, Milo Rau, 2020
Modern Times, Charlie Chaplin, 1936
Snow White, Samir, 2005
Bread and Chocolate, Franco Brusati, 1972
All Screwed Up, Lina Wertmüller, 1974
Welcome to Switzerland, Sabine Gisiger, 2017
Palermo oder Wolfsburg, Werner Schroeter, 1980
The forbidden children of seasonal workers, SRF, 2023
The Seduction of Mimi, Lina Wertmüller, 1972
Tarifa Traffic, Joakim Demmer, 2003
Die schwarzen Brüder, Xavier Koller, 2013
Non ho l’età, Olmo Cerri, 2017
C’erano una volta i migranti italiani, Cédric Louis und Maria-Pia Mascaro, 2019

 

Nachbemerkung

 

Konsumiert man Samirs «Wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» wie einen Lehrfilm, wird man von der Fülle der Namen, Daten und Ereignisse fast erschlagen. Konsumiert man ihn jedoch wie einen Spielfilm, entführt er einen auf eine spannende und berührende Reise durch die Schweizer Immigrationsgeschichte der letzten Jahrzehnte – und hinterfragt gleichzeitig unsere heutige Situation.

 

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Informationen über die Gestaltung des Films: Filmstruktur

 

Regie: Samir, Produktion: 2023, Länge: 130 min, Verleih: Dschoint Ventschr Distribution