El Tiempo Nublado

Was machen wir mit unseren alten Eltern? Diese Frage hat sich auch die Tochter und Filmemacherin Arami Ullón gestellt, darauf Antworten gesucht und darüber «El Tiempo Nublado» gedreht: berührend und herausfordernd.
El Tiempo Nublado

Solange sich Arami Ullón an ihre Jugend in Paraguay erinnern kann, litt ihre Mutter Mirna Villalba an Epilepsie und Parkinson. Von Kindheit an musste die Tochter sich um die Mutter kümmern. Vor zehn Jahren erst gelang ihr die Ablösung. Inzwischen lebt sie, die Regisseurin von «El Tiempo Nublado», mit ihrem Freund Patrick in der Schweiz. Die Mutter wohnt nach wie vor in Asunción, wo sich die ungelernte Pflegerin Julia täglich für einen bescheidenen Lohn um sie kümmert. Doch ihre Krankheiten schreiten voran. Schliesslich ist die Tochter gezwungen, zu ihr zurückzukehren und eine Lösung zu suchen.

Die weitere Pflege wird zur existenziellen Frage für alle: Muss Arami ihr Leben und ihre Karriere aufgeben? Kann der Ex-Gemahl von Mirna einen Teil der Arbeit übernehmen? Ist ein Pflegeheim in Asunción oder in der Schweiz die Lösung? Woher kommt dafür das nötige Geld? Gelingt es Arami in diesem Land, in dem die Betreuung alter Menschen vornehmlich von der Familie geleistet wird, für ihre Mutter eine gute Lösung zu finden? Die Gespräche mit den Angehörigen bringen nur wenig. «Der Film wird dir helfen, zur Ruhe zu kommen», meint etwa der Vater besänftigend und sich aus der Verantwortung stehlend. Grundsätzlich muss die Mutter überzeugt werden, dass professionelle Betreuung nötig ist, wofür sie ihre Tochter aus der Verantwortung entlassen muss. Und die Tochter muss lernen, ihr schlechtes Gewissen, das sie seit der Kindheit belastet, zu überwinden.

Ein Haufen Probleme, von zwei Menschen verkörpert

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Arami und Mirna reden und schweigen miteinander

«El tiempo nublado» ist ein persönlicher Film über ein universelles Thema: Was macht Arami mit ihrer Mutter im fernen Paraguay? Was machen wir mit unseren Eltern, wenn sie alt und krank sind? Was macht die Gesellschaft mit der immer grösseren Anzahl alter und kranker Menschen in einer Gesellschaft mit immer weniger Generationen übergreifenden Familien? Einfühlsam und authentisch erzählt Arami die Geschichte, die Regisseurin erzählt über sich, mehr noch, sie lässt uns dabei sein, wenn sie ihr Leben lebt. Sie ist zugleich das Subjekt, das den Film macht, und das Objekt, das er abbildet. Sie hat es dem Kameramann Ramòn Giger überlassen, sie in dieser Auseinandersetzung zu filmen, selbst wenn sie traurig, verzweifelt oder wütend war. Alle Personen im Film werden in ihrem Suchen, ihrer Hilflosigkeit, ihrem Aufbegehren und ansatzweise in ihrem Finden gezeigt. Die Tatsache, dass in diesem Dokumentarfilm zahllose Probleme in einer Person verkörpert werden, verleiht ihm seine Nähe und Authentizität.

Unaufgeregt, anrührend, schön und menschenfreundlich wird diese transnationale Familiengeschichte erzählt. Die Sequenzen mit Arami und Mirna sind vornehmlich in warmem Braun, Orange und Ocker, die Sequenzen mit Arami und Patrick oder den Jungen vor Ort in satten, bunten Farben. Problembeladenen, emotionalen Szenen folgen oft Bilder von braunen, grauen Vorhängen, die sich zu leiser Musik ruhig im Wind bewegen, oder Strassenszenen, die das Leben vor Ort wiedergeben (Schnitt Mirjam Krakenberger). Die Gespräche enden oft in mehr oder weniger langem Schweigen, das den Agierenden, aber auch uns, Raum lässt, die anstehenden Fragen persönlich zu verarbeiten. Irgendwo heisst es: «Wir sind alle allein», womit Ullón ihr privates Thema ins allgemein Menschliche überhöht. So wird aus einem kleinen Film ein grosser, aus einer persönlichen Geschichte ein allgemein gültiges Gleichnis. In anderen Momenten zeigt sich das Leben als Kreis, beginnend mit der Hilflosigkeit des kleinen Kindes, endend mit der Hilflosigkeit des alten Menschen. Und gegen Ende handelt der Film auch vom Abschied Nehmen: «Dire adieu c'est un peu mourir».

Die Regisseurin und Hauptdarstellerin Arami Ullón

Arami Ullon Regie

Arami Ullón: die Regisseurin und Hauptdarstellerin

Die Filmemacherin von «El Tiempo Nublado» kam in Asunción (Paraguay) während der Zeit der Diktatur von Alfredo Stroessner zur Welt. Mit elf Jahren erlebte sie den Zusammenbruch der Diktatur und den Neustarts ihres Landes. Schon in jungen Jahren hatte sie die Hartnäckigkeit und den Ehrgeiz, Unternehmerin zu werden. Ihre Aufmerksamkeit galt der Kunst und ihrer Verbreitung, sie organisierte Video-Ausstellungen, leitete ein Kulturzentrum und arbeitete zusammen mit unabhängigen Filmproduzenten. Als Regisseurin inszenierte sie Theater und drehte Kurzfilme, als Autorin publizierte sie Kurzgeschichten. Nachdem sie zwei Jahre als Produzentin tätig war, realisierte sie ihren ersten Kino-Dokumentarfilm «El tiempo nublado» (Bewölkte Zeiten). Mit ihm wurde sie 2014 in Nyon Gewinnerin der «Section Regard Neuf» und erhielt die «Special Mention der Section Cinéma Suisse». Heute lebt sie meist in Basel, einige Monate verbringt sie in ihrer Heimatstadt in Paraguay. Von der Boston Film and Video Foundation, wo sie 2006 Filmmaking studierte, erhielt sie einen Preis. Insgesamt arbeitete sie für Spielfilme in Paraguay, Brasilien, USA, Mexiko und Spanien.

Film als Therapie und Gesellschaftskritik

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Tochter Arami, Mutter Mirna und ihr Ex-Ehemann

Gleich in der Einleitungssequenz fragt Arami ihre Mutter: «Wieso machen wir diesen Film? Was denkst du?» Und diese antwortet: «Ich denke, es geht darum, zu zeigen, was einem passiert in diesem Stadium der Krankheit. Und wie es ist, obwohl man Kinder und Verwandte hat, im Abseits zu leben, allein zu sein, nur wegen dieser Krankheit.» Erst dann kommt sie zum Kern: «Und ich denke, es wird dir helfen, zur Ruhe zu kommen. Dir, mir und deinem Vater.» Der Film greift neben der individuellen eine gesellschaftliche Problematik auf, konkret in Paraguay, doch grundsätzlich überall auf der Welt. «El tiempo nublado» bildet für die Filmautorin und Akteurin eine «bewölkte Zeit» ab, wie es der Titel sagt. Sie versteht den Film auch als Therapie. Doch darüber hinaus will sie dem Publikum etwas mitgeben: Empathie für ähnliche Situationen, Verständnis für die allgemeine Problematik und Ideen, im eigenen Leben und in ähnlicher Situation gut damit umzugehen.

Regie: Arami Ullón, Produktion: 2014, Länge;92 min, Verleih: Cineworx