Frantz
Adrien und Anna
1919, kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Anna (Paula Beer, *1995) besucht jeden Tag das Grab ihres gefallenen Verlobten Frantz. Sie wohnt bei den Eltern des Toten und kann sich nur schwer von der Vergangenheit lösen. An den Avancen eines Verehrers ist sie nicht interessiert, obwohl die Familie sie zu einem neuen Leben ermuntert. Als Anna eines Tages auf dem Friedhof einen Fremden (Pierre Niney, *1989) beobachtet, der dort Blumen niederlegt, spricht sie ihn an. Er heisst Adrien und ist im Krieg dem Verstorbenen begegnet. Der Franzose wird in der deutschen Kleinstadt so kurz nach dem Krieg nicht gerade willkommen geheissen, doch Anna mag den geheimnisvollen Mann.
Was sich zwischen Anna und Adrien und ihrer Familie abspielt, wer Adrien eigentlich ist, wie er zu seinen Eltern und Annas Pflegeeltern steht – sei hier nicht verraten. Es ist fragmentarisch aus dem nachfolgenden Interview und abschliessend aus dem Betrachten des Films zu erfahren. Mit dem Meisterwerk tauchen wir in eine bewegende, innere, zwischenmenschliche und ethische Welt ein.
Vorgeschichte und Dreharbeiten
Der Franzose François Ozon entschloss sich, seinen 16. Spielfilm grösstenteils in Schwarzweiss zu drehen: «Eines Tages kam mir die Idee, unsere Fotos von möglichen Motiven in Schwarzweiss abzubilden. Wie durch ein Wunder wurden die Motive absolut glaubwürdig. Paradoxerweise verstärkt diese Reduktion den Realismus und die Authentizität, da wir diese Zeit nur in Schwarzweiss kennen.» Der Spielfilm wurde 2015 in Quedlinburg, Wernigerode, Görlitz und im französischen Eymoutiers gedreht.
Eigenen Angaben zufolge reichten Ozons Deutschkenntnisse gerade aus, um das Filmteam zu leiten. Er vertraute auf die Schauspieler und bat sie um Hilfe bei den Dialogen. Für die Hauptrollen verpflichtete er die jungen Schauspielerin Paula Beer aus Deutschland und den erfahrenen Pierre Niney aus Frankreich. Beer musste zum Casting innerhalb eines Tages zwei Szenen auf Französisch vorbereiten. Sie verstand sich schnell mit dem Regisseur und wurde danach von ihm nach Paris eingeladen, um gemeinsam mit Pierre Niney zu proben. Nach einigen Tagen bekam Beer den Zuschlag für die Rolle. Sie hatte daraufhin sechs Wochen Zeit, den Part der Anna auf Deutsch und Französisch einzustudieren. Beim Drehen unterstützten sich Beer und Niney gegenseitig bei Problemen in der jeweils fremden Sprache. Während Ozon seinen Landsmann als grossartigen Charakterschauspieler lobte, der in verschiedenen Registern spielen kann, fiel ihm an Beer etwas Schelmisches und Melancholisches auf, lobte ihr schauspielerisches Spektrum, ihre Glaubwürdigkeit und Fotogenität. Sie wurde am diesjährigen Filmfestival in Venedig als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet. Grossartige Regie, überzeugendes Spiel, kluger Einsatz von Kamera und Musik.
Anna und Adrien kommen sich nahe
Aus einem Interview mit François Ozon
«Frantz» greift viele Themen Ihrer früheren Filme auf. Doch hier erkunden Sie neues Terrain.
Unbewusst habe ich sicher einige meiner Obsessionen übernommen. Aber ich habe in einer anderen Sprache, mit anderen Schauspielern und ausserhalb von Frankreich gedreht. Das war alles neu für mich. Ich hoffe, dass dadurch auch meine Themen neue Kraft und eine neue Dimension gewinnen. Dieser Film brachte mir viele spannende Herausforderungen: Ich hatte noch nie einen Krieg gefilmt, Kampfszenen, eine deutsche Kleinstadt, Paris in Schwarzweiss und in deutscher Sprache. Besonders wichtig war mir, diese Geschichte vom Standpunkt der Deutschen aus zu erzählen, der Verlierer, die durch den Friedensvertrag von Versailles gedemütigt wurden. Ich wollte auch erzählen, wie in Deutschland damals der Nationalsozialismus entstanden war.
Im Gegensatz zum klassischen Melodrama verliebt sich Adrien nicht in Anna.
Anna und Adrien teilen die Trauer am Tod von Frantz. Aber können sie deshalb auch Liebesgefühle teilen? Sie glaubt es zunächst. Als sie dann aber die Wahrheit erfährt, erscheint es ihr unmöglich. Nach ihrer Genesung glaubt sie wieder daran, bis sie in Frankreich nochmals mit einer anderen Realität konfrontiert wird. Das Bezaubernde an Anna ist ihre Blindheit: Sie weiss, was Adrien getan hat, leidet jedoch vor allem unter ihrem unterdrückten Begehren. Schliesslich macht sie sich auf die Suche nach ihm, will trotz allem an ihre Liebe glauben. Adrien dagegen weiss nicht, was er begehrt.
Paula Beer, eine grossartige Anna
«Haben Sie keine Angst, uns glücklich zu machen», sagt die Mutter zu Adrien, bevor er anfängt, Geige zu spielen.
Die Eltern von Frantz wollen Adrien von ganzem Herzen bei sich aufnehmen. Geblendet durch die Illusion der deutsch-französischen Freundschaft und der Möglichkeit, dass er den Platz ihres verstorbenen Sohnes einnehmen könnte, akzeptieren sie unbewusst die Lüge. Alles beruht auf einem Missverständnis, dem Adrien nachgibt. Auf diese Weise lernt Adrien Frantz kennen, tut der Familie und sich etwas Gutes. Eine Notlüge, die Trost bringt. Indem er den Eltern diese Freude bereitet, verdrängt er vorübergehend das eigene Schuldgefühl.
Adrien ist eine komplexe Figur.
Adrien ist ein von Gewissensbissen geplagter, verstörter junger Mann. Verstört durch sein Begehren, sein Schuldgefühl, seine Familie. Anfangs weiss man wenig über ihn, er ist recht mysteriös. Im Laufe des Films wird Anna immer mehr von ihm enttäuscht. Das Trauma des Krieges hat ihn in eine Art Ohnmacht gestürzt. Es fehlt ihm an Kraft, er leidet an einer Neurose, die er nicht überwinden kann. Seine Obsession und seine Liebe zu Frantz werden zu einem tödlichen Gift, auf das er nicht verzichten will.
In gewisser Weise beginnt Annas eigentliche Trauer erst, als Adrien Deutschland verlässt.
Bis dahin war Anna für die Eltern von Frantz stark geblieben. Dann sagt der Vater zu ihr: «Als Frantz uns verlassen hat, hast du uns geholfen weiterzuleben. Jetzt sind wir dran, dir zu helfen.» Aber durch die Lüge und Adriens Abreise kommt der ganze Schmerz wieder hoch. Anna wird erneut verlassen und empfindet es diesmal als noch grausamer. Vielleicht auch aufgrund der grösseren erotischen Spannung zwischen ihr und Adrien.
Pierre Niney, ein geheimnisvoller Adrien
Für Anna geht es nicht so sehr um Trauerarbeit und Vergeben als vielmehr um die erste echte Liebe.
Das Drehbuch entführt uns in keine Traumwelt, sondern folgt Annas "Éducation sentimentale", ihren Enttäuschungen angesichts der Realität, der Lüge, des Verlangens. Anna war für Frantz bestimmt. Es war eine romantische Jugendliebe, die vielleicht arrangiert und sicher platonisch war. Aber dieser Drang wurde brutal gestoppt. Da tritt plötzlich und wundersam ein zweiter, leidenschaftlicher Märchenprinz auf. Er ist zwar auch nicht der Richtige, aber durch ihn wird sie mit den entscheidenden Phänomenen des Lebens konfrontiert: dem Tod, der Liebe, dem Hass und dem Anderssein.
Der Anfang des Films ist auf Anna konzentriert, die zwischen dem Grab von Frantz und ihrem Zuhause hin- und herläuft.
Ich filme gern die Wege, die meine Figuren zurücklegen. So wird ihre Entwicklung körperlich greifbar. Es hilft auch, den Film und die Protagonisten geografisch zu identifizieren. Es war wichtig, diese deutsche Kleinstadt zu zeigen, die Wege vom Haus zum Friedhof und dann zum Gasthaus. Während man den Weg einer Figur verfolgt, versetzt man sich in sie und begreift ihre Entwicklung. Zu Anfang tritt Anna ein bisschen auf der Stelle. Sie dreht sich im Kreis in der kleinen Stadt. Später tritt sie ihre grosse Reise nach Frankreich an, wo sie die Wirklichkeit wahrnimmt.
«Es gibt mir Lust zu leben», sagt Anna, während sie das Gemälde «Der Selbstmörder» ansieht.
Die Ironie daran gefällt mir: Sie steht vor dem Bild von Edouard Manet und erkennt die Wahrheit, trotz Krieg, Dramen, Toter und Lügen. Sie ist innerlich gewachsen, hat Prüfungen bestanden, einen langen Weg zurückgelegt und grosse Kraft erlangt. Mit Frantz und Adrien hat sie eine verlorene Liebe und eine erträumte Liebe überwunden. Vielleicht ist sie jetzt fähig, wirklich zu lieben und den richtigen Menschen zu finden.
Deutschland und Frankreich zwischen Waffenstillstand und Annäherung (PDF)
Regie: François Ozon, Produktion: 2016, Länge: 113 min, Verleih: Filmcoopi