Green Border
Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko lässt seit Jahren Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan nach Minsk einfliegen und sie dann an der «Grünen Grenze» zu Polen aussetzen. Sein zynisches Kalkül ist es, die Debatte über Asyl und Migration in der EU weiter anzuheizen. Die polnische Regierung reagiert mit der Errichtung von Sperrzonen, wo die Leute ohne Gerichtsverfahren illegal wieder über die Grenze zurückgeschoben werden. Im Film «Green Border» geht es nicht nur um Polen, sondern auch das Drama im Mittelmeer – um uns alle in Europa.
Angelockt von Lukaschenkos Versprechungen haben Bashir und Amina mit ihrer syrischen Familie, wie viele andere Geflüchtete, den Flug nach Minsk gebucht, um von dort über die Grüne Grenze nach Polen und dann zu ihren Verwandten zu gelangen. Doch die Verheissung war eine Falle. Zusammen mit Tausenden anderen steckt die Familie im sumpfigen Niemandsland zwischen Polen und Belarus fest, von den Grenzschützern beider Länder im streng abgeschirmten Sperrgebiet hin und her getrieben, abgeschnitten von jeder Hilfe.
Auf dem Weg
Im Oktober 2021 landet eine Gruppe von Flüchtlingen, unter ihnen die afghanische Englischlehrerin Leila und die syrische Familie am Flughafen Minsk. Von dort reisen sie mit einem Schlepper weiter zur polnischen Grenze, um so in die EU zu gelangen. Der Grenzübertritt ist erfolgreich. Doch was die Gruppe nicht weiss: Sie wird ein Spielball der Politik. Lukaschenko nutzt die Flüchtenden als Druckmittel gegen die EU, Polen schafft sie zurück auf belarussisches Territorium. Auf diese Weise werden sie zwischen den beiden Ländern hin- und hergeschoben. Auf der Strecke bleibt die Menschlichkeit.
Dem polnischen Grenzkorps wird eingetrichtert, die Immigranten hart anzufassen, da es sich um potenzielle Terroristen handle. Der Grenzwächter Jan, der zuhause eine schwangere Frau hat, beginnt am Sinn seiner Arbeit zu zweifeln. Die Psychologin Julia, die in der Nähe der Grenze wohnt, will den tagtäglichen Gräuel, den die Menschen erleben, nicht länger tatenlos ansehen und wird Teil einer Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten, die trotz staatlichem Verbot versuchen, die in den Wäldern festsitzenden Flüchtlinge mit dem Nötigsten zu versorgen. Hier treffen sie auch Bashir und Amina.
Die Regisseurin
Agnieszka Holland, die Autorin von «Green Border»: «Als die Krise an der polnisch-belarussischen Grenze begann und das Ausmass der Lügen und Grausamkeit klar wurde, realisierte ich: Jetzt kann ich nicht mehr schweigen.» Sie selbst fühlt sich einer Generation von Filmschaffenden angehörig, die versucht, im Kino die Probleme der Welt darzustellen, denn sie glaubt an die Wirkkraft des Kinos, die vielerorts verloren ging. Sie arbeitet wie die Brüder Dardenne, siehe «Tori und Lokita», wie Ken Loach, siehe «The Old Oak» und einige andere.
Holland bringt Europa auf den Prüfstand. Ihr Film ist mit Wut und aktivistischem Eifer inszeniert, will Empathie wecken und das Bewusstsein schärfen, damit sich die unmenschlichen Zustände ändern. Die 74-jährige Polin, eine grosse Dame des europäischen Kinos, recherchierte vor Ort und verdichtete die Ergebnisse zu einer fiktionalen Geschichte, in der sich mehrere Handlungsstränge kreuzen.
Das Drama …
Inmitten der urwüchsigen Landschaft an der Grünen Grenze entfaltet sich das vielstimmige Drama zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Zynismus und Menschlichkeit. Wegschauen ist kaum möglich. Es geht um Leben und Tod. Die Regisseurin hat kein Manifest, sondern einen humanen, differenzierten und hellsichtigen Film gedreht, der es sich mit seinen Beobachtungen nicht leicht macht. Weder sind die Aktivisten heilige Retter, noch die Grenzer rohe Bestien. Auch die NGOs werden als heterogene Gruppe beschrieben, die um Aktionsformen und rote Linien ringt. Holland zeigt ihre moralischen Skrupel und Streitigkeiten, die emotionalen Triggerpunkte der Menschen, ihre Verzweiflung und ihre Hoffnung auf eine andere Welt. «Green Border» macht wütend, traurig oder verzweifelt, weil er zeigt, was ist. Ganz Europa sollte den Film sehen, denn ganz Europa ist darin präsent, mit seinen hellen und dunklen Seiten.
… und die Reaktionen
Die erfahrene Regisseurin prangert die aktuellen Missstände in ihrer Heimat an und hat damit die Kritik der rechtsgerichteten Regierung auf sich gezogen. Ihr Film über das Regime gegenüber Migranten führte im Land zu politischen Kampagnen gegen sie und ihren Film. Ihr wird eine antipolnische Position unterstellt, der Film sei Propaganda im Stile des Nationalsozialismus. Kritik auch von den führenden Politikern der Regierungspartei PiS, dem Staatspräsidenten Andrzej Duda, dem Vizepremier, dem Verteidigungs- und dem Justizminister, der «Green Border» als «schändlich, abstossend, ekelerregend» bezeichnete. Zum Kinostart am 22. September organisierte die Regierung eine «Kette der Unterstützung für den Grenzschutz». Holland dazu: «Ich bin in meinem langen Leben schon oft als Staatsfeindin bezeichnet worden, das bin ich gewohnt, aber noch nie habe ich diesen Hass von der polnischen Regierung und ihren Anhängern erlebt wie jetzt.»
Epilog vom 26. Februar 2022
Grenzübergang: «In den ersten Wochen des Kriegs in der Ukraine nahm Polen fast 2 Millionen geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer auf. Seit der Migration im Jahre 2014 sind etwa 30'000 Menschen an der Grenze Europas ums Leben gekommen. Auf dem Meer, zu Land, in den Wäldern. Während wir im Frühling 2023 diese Zeilen schreiben, sterben weiterhin Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze.»
«Green Border» hat am Filmfestival von Venedig 2023 den «Spezialpreis» und sechs weitere Auszeichnungen erhalten, weitere Preise folgten an anderen Orten.
Ein Dokumentarfilm aus Polen, der kürzlich bei uns lief, «Polish Prayers» von Hanna Nobis, kann vielleicht helfen, den ideologisch-religiösen Hintergrund der aktuellen Situation im Land besser zu verstehen.