Heldin
Wer ist eine Heldin?
Vor dem Filmstart fragte ich mich: Sind im Alltag nicht meistens Männer die Helden, nicht Frauen? Und wurde uns dies schon in jungen Jahren beigebracht? Denken wir bei Helden nicht spontan an das Schulwandbild der alten Eidgenossen? ̶ Also gehe ich mit einer fragenden, zwiespältigen Stimmung in den Film «Heldin». Doch Floria nimmt mich mit ihrem grossartigen Spiel von der ersten Minute an mit durch das Spital, von Zimmer zu Zimmer, von Patientin zu Patient und so weiter.
Floria beginnt ihren Spätdienst auf der viszeralchirurgischen Abteilung im Kantonsspital einer Schweizer Stadt. (Viszeralchirurgie umfasst die operative Behandlung der inneren Organe, zu denen der ganze Verdauungstrakt, von der Speiseröhre, über Magen, Dünn- und Dickdarm bis zum Enddarm und After, gehört.)
Eine der Pflegenden im Team ist krank, und eine Temporärkraft wird nicht aufgeboten. Floria und ihre Kollegin Bea sind daher zu zweit für sechsundzwanzig Patienten und Patientinnen verantwortlich und sollen zudem die Studentin Amelie betreuen.
Zum Schichtbeginn hilft Floria voller Elan ihrem Kollegen aus dem Frühdienst bei einem
Neuzugang, obwohl das eigentlich nicht ihre Aufgabe ist. Gleichzeitig sorgt Herr Osmani für Verzögerungen, kommt zu spät zur OP und hält die Pflegerin mit seiner Zerstreutheit auf. Als sie aus der Operationsabteilung auf die Station zurückkehrt, ist sie bereits in Verzug mit ihrer Runde. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
In jedem Raum, den Floria betritt, trifft sie auf individuelle Schicksale. Alle sind bedürftig und gehen mit der Krankheit anders um. Keine Begegnung lässt sich einfach abarbeiten. Ihr erster Patient, Herr Nana, ist ein Westafrikaner, der ungeduldig auf die Computertomografie wartet und Angst hat, weil er allein in der Schweiz lebt.
Im nächsten Zimmer liegt der sterbende Herr Schneider, dessen Tochter jede Minute aufopfernd an seinem Bett verbringt und dabei vergisst, auf sich selbst zu achten. Neben ihm liegt Herr Leu, ein Patient, den Floria bereits kennt und der ihr am Herzen liegt. Er wartet seit Tagen auf seine Diagnose, macht sich jedoch vor allem Sorgen um seinen Hund. Wer wird nach ihm schauen, wenn das eintritt, was er befürchtet?
Ein Privatpatient, Herr Severin, der am Morgen die Nachricht erhalten hat, dass er an einer tödlichen Krankheit leidet, begegnet ihr mit Aggression und überzogenen Ansprüchen. Zwischendurch klingelt immer wieder ihr Telefon und unterbricht ihre Arbeit. Eine Tochter fordert, die verlorene Brille ihrer Mutter zu suchen. Gleichzeitig fordert die Kollegin aus der Operationsabteilung, dass die Patienten aus dem Aufwachraum abgeholt werden.
Dann ist Herr Hungerbühler an der Reihe, ein gesprächiger Mann, der sie mit seinen Geschichten zum Schmunzeln bringt, später Herr Song, der eine Medikamentenallergie hat, auf die sie achten muss. Auch auf dem Gang wird sie aufgehalten. Die Söhne der schwer kranken Frau Bilgin warten darauf, dass eine Ärztin mit ihnen spricht, und wollen von der Pflegefachfrau wissen, wann dies endlich geschieht.
Trotz der Hektik gelingt es Floria immer wieder, den richtigen Ton zu treffen und Raum für Momente von Menschlichkeit und Wärme zu schaffen. So setzt sie sich ans Bett von Frau Kuhn, dem Neuzugang, und singt für sie ein Lied, um sie zu beruhigen. Auch für ein Gespräch mit der jungen, schwer krebskranken Frau Morina, die überlegt, ob es noch Sinn macht, die Behandlung fortzusetzen, nimmt sie sich Zeit.
Obwohl Floria mit absoluter Professionalität arbeitet und alles tut, um sich gewissenhaft um ihre Patientinnen und Patienten zu kümmern, gerät ihre Schicht zunehmend aus dem Ruder. In der Hektik begeht sie einen gefährlichen Fehler. Als dann auch noch die Reanimation einer Patientin erfolglos bleibt und der Geschäftsmann im Privatzimmer sie weiter schikaniert, kommt es zum Eklat.
Die Heldenbilder in unsern Köpfen
Spätestens nach einer Viertelstunde dieses bewegenden und herausfordernden Spitalbesuches merken wir, dass sich in unseren Köpfen etwas zu ändern beginnt. Es leuchtet ein: Die Pflegefachleute sind die wahren Heldinnen, und Flora ist eine von ihnen! Doch warum sind wir so falsch programmiert?
Auch heute berichten die Mainstreammedien von den Helden auf dem Schlachtfeld, den Helden der Politik, Technik, Wirtschaft, meist Männern, bloss am Rande von Frauen. Und im Spital: Wer spricht dort von den Heldinnen der Pflege? Dort stehen meist die Ärzte im Mittelpunkt, obwohl offensichtlich mehr als das Skalpell der Ärzte die helfenden Hände und die tröstenden Blicke der Pflegefachfrauen weiterhelfen.
Vielleicht ist das eines der grossen Verdienste des Films von Petra Volpi, personifiziert von der Protagonistin Leonie Benesch, uns diese Tatsachen anschaulich und nachvollziehbar zu machen, dass wir im Spital die Aufgaben von Floria gleich selber lösen möchten.
Am Puls des Lebens
Pflegende im Spital, in einer Rehaklinik, im Heim oder die unzähligen Angehörigen zu Hause sind es, die das Gesundheitswesen gerade noch überleben lassen, weil sie Millionen sparen. Doch nicht das Geld ist entscheidend. Die Pflegende ist bei den Patientinnen und Patienten, ist Teil dieses erhaltenden, fördernden und erschaffenden Pulses des Lebens. ̶ Ich provoziere vielleicht, wünsche mir bloss, dass wir dies zur Kenntnis nehmen und unser individuelles und gesellschaftliches Handeln danach richten.
Die Heldin: durchdekliniert
Lassen wir die Handlung des wunderbaren Filmes, Szene um Szene, Gespräch um Gespräch, Geste um Geste, Blick um Blick passieren ̶ dann erfahren wir, wer die Heldin ist, wer die Heldinnen sind im Psychothriller, wie er hier und weltweit täglich läuft.
Geredet und geschrieben wird täglich über das auf eine Katastrophe zusteuernd Sozialwesen. Postuliert, proklamiert und polemisiert wird noch mehr, doch getan nur wenig bis nichts. Darum hier der Nachspann zum Weiterdenken:
«Bis zum Jahre 2030 werden in der Schweiz 30 000 Pflegefachkräfte fehlen. 36% der ausgebildeten Pflegenden steigen bereits nach vier Jahren wieder aus. Der weltweite Mangel an Pflegekräften ist ein globales Gesundheitsrisiko. Die WHO schätzt, dass bis zum Jahr 2030 rund 13 Millionen Pflegende fehlen werden.»
Vielleicht ist es ein zweites grosses Verdienst des Films von Petra Volpi, mit Leonie Benesch in der Titelrolle, Judith Kaufmann an der Kamera und dem ganzen Team, dass vielleicht da und dort im Publikum ein Umdenken beginnt!
Spannende Informationen über die Entstehung des Films enthält das Gespräch im Anhang:
Fragen an Regisseurin und Drehbuchautorin Petra Volpe