Il buco
Während im Wirtschaftsboom Norditaliens die höchsten Wolkenkratzer Europas entstehen, erzählt der Film «Il buco» (das Loch) von jungen Höhlenforschern aus dem Piemont, die im August 1961 nach Süditalien aufbrachen, um eine der tiefsten Höhlen Europas zu erkunden und dabei in die Unterwelt einer von Menschen verlassenen Region einzutauchen. An der Grenze zwischen Kalabrien und der Basilikata erforschen sie eine Höhle in 687 Meter Tiefe. Ihre Reise beginnt im Nachbardorf, dessen Bewohner ihre Anwesenheit kaum bemerken, nur ein alter Hirt sie wahrnimmt.
Dieser Inhalt ist eigentlich bloss ein Vorwand für das, was Michelangelo Frammartino mit seinem dritten Film beabsichtigt, nämlich anderes und viel mehr. Beim ersten Betrachten des Films, muss ich gestehen, fand ich ihn langweilig, weil ich bloss äusserlich einer Story folgte – statt zu schauen und zu hören, für wahr und bedeutend zu nehmen, was mit der Geschichte gemeint sein könnte. Erst beim zweiten Mal wurde mir bewusst, dass es sich bei diesem Film um spannende, wunderbare, vieldeutige Gleichnisse handelt, die mich mehr und mehr berühren und bereichern.
Ein unauffälliges Loch
Vorgeschichte, Hintergrund
Als Michelangelo Frammartino 2007 in der Pollino-Hochebene an seinem letzten Film arbeitete, lud ihn der Bürgermeister des Dorfes auf eine Tour ein und zeigte ihm ein unauffälliges Loch in der Landschaft. Als dieser einen Stein in die Höhle hinunterwarf und sie keinen Aufschlag hören konnten, war für den Zugereisten klar: Darüber will ich einen Film drehen! Mit Giovanna Giuliani schrieb er ein Drehbuch, für die Kamera engagierte er den Schweizer Renato Berta und für die Montage Benni Atri; von Eurimages erhielt er 430’000 Euro.
Der Regisseur versorgte seine zwölf Forscher, die während eines langen Castings in ganz Italien ausgewählt wurden, mit 60-jährigen Ausrüstungen und filmte, wie sie die Expedition der Höhlenforscher der 1960er-Jahre nachspielten. Der Film wurde 2019 gedreht, lief danach an mehreren Festivals und erhielt in Venedig einen Spezialpreis.
Ein alter Hirt beobachtet die jungen Forscher
Einladung zum Bilder-Lesen
Die ersten vier Sequenzen, insgesamt sieben Minuten, geben den Ton an, wie der Film zu hören und zu sehen ist. Er startet mit einem Blick aus der Höhle nach oben, dabei wird es hell, dann farbig, schliesslich mit Ton. In der zweiten Sequenz überblicken wir Landschaften und tauchen in Wolkenformationen ein, sehen Kühe, die ein Hirt hütet. In der nächsten Sequenz nähern wir uns einem Dorf und seiner Bevölkerung; dagegen montiert schwarz-weisse Aufnahmen eines 120 Meter hohen Wolkenkratzers in Mailand, auf den wir mit dem Aussenlift fahren. In der vierten Sequenz sehen wir den alten Hirten und hören seine Rufe an die Tiere. Jetzt folgt der Titel «Il buco». – Dies sind vier der zahllosen «inneren» Geschichten, die der Film erzählt, die wir erleben, wenn wir uns in die Bilderwelt dieses Filmes hineinfallen lassen.
Ab jetzt werden Bilder und Bilder, Töne und Töne, Schwenks und Schwenks, Menschen und Gegenstände miteinander und gegeneinander in Kontakt gebracht. Dem Regisseur gelingt mit vermeintlich simplen Mitteln eine ethnologische Naturdokumentation und eine ungewohnte Anthropologiestudie. «Il buco» ist Verzauberung und zugleich Entzauberung der Natur und des Menschen, wie es vielleicht nur das Kino zu realisieren vermag – nicht in Erzählungen, sondern in Gleichnissen.
Der lange, schwierige Abstieg
Höhlengleichnisse
Geschickt werden räumliche und emotionale Gegensätze zu Denkräumen zusammengefügt, in denen grosse Fragen untergründig aufscheinen. Während die Forscher im kleinen Dorf ankommen und mit den Kindern in den engen Gassen spielen, sitzen die Dorfbewohner in der Bar vor dem Fernseher, wo eine Show und eine Reportage über ein Mailänder Hochhaus flimmert. Wie der Mensch sich und seine Ingenieurskunst beklatscht, wo Arbeitende in diesem Gebäude wie eingesperrte Ameisen ihre Arbeit verrichten! Gibt es eine bessere Verkörperung der Ideologie des exzessiven Kapitalismus als dieser Wolkenkratzer? Alles, was Frammartino in diesem Film ausführlich zeigt und behandelt, sind Landschaften: Gesichter, Tiere, Gesten. Selten hat ein Film mit solch betörender Schönheit und ohne jeden belehrenden Ton gezeigt, dass es die Erde ist, die uns mit ihrer Tiefe ernährt: Die Wurzeln der Bäume sind die Äste der Erde: ein Sprachbild, das der Ästhetik dieser dokumentarischen Fiktion oder fiktionalen Dokumentation vielleicht am nächsten kommt.
Das zwischen Nord und Süd gespaltene Italien der 60er-Jahre, verarmtes Land gegen wohlhabende Städte, brodelt im Hintergrund der Ortsbegehung, ohne dass sich Frammartino, im Vertrauen auf den Reiz der Vieldeutigkeit, in klaren Statements festlegt. In szenischen Tableaus ohne Dialog erzählt er im Gleichzeitigen das Ungleichzeitige: Da erforschen Junge mit Energie und Abenteuerlust die Tiefe; dort hütet ein alter Hirte seine Tiere, bis er, von Kollegen liebevoll umsorgt, stirbt, was sich zu einem ergreifenden Kreislauf des Lebens verbindet. Der Filmemacher gibt gar nicht erst vor, seine zahlreichen Eindrücke zu einem einzigen Thema vereinfachend zusammenzuführen. Seine teils kryptischen Aufnahmen sprechen die grossen Fragen der Zivilisation und der Wissenschaft des Menschen in der Natur an. Den nackten Existenzialismus, der im Abstieg in den Abgrund lauert, erweitert er mit suchenden Assoziationen. Dialoge gibt es nur minimale. Seinen Soundtrack bilden die Geräusche vor Ort. Was der Film zu sagen hat, dringt aus seinen Bild- und Klangwelten.
Den alten Hirten, der sich mit der Gruppe der Jungen zu verbinden beginnt, installiert Frammartino als Anachronismus und Repräsentanten des Einklangs mit der Natur; sein nahender Tod verweist auf den unaufhaltsamen, sich nähernden Tod aller. Die Ankunft der Forscher bringt auch etwas latent Zerstörerisches in den unberührten Mikrokosmos und lässt gelegentlich klaustrophobische Ängste aufkommen, da ein möglicher Absturz allgegenwärtig droht.
ie eine Höhle in 687 Meter Tiefe. Ihre Reise beginnt im Nachbardorf, dessen Bewohner ihre Anwesenheit kaum bemerken, nur ein alter Hirt sie wahrnimmt.
Am Ende der Höhle
Die dunkle Höhle des Kinos
Wann immer ein Film in eine solch tiefe Höhle hinabsteigt, gelangt er in Analogie auch zu den Wurzeln des Kinos. Denn dort, wo im Lichtschein plötzlich Bilder an den Wänden aufscheinen und mit dem Verborgenen konfrontieren, werden wir von den Schattenspielen, dem Ursprung des Kinos ja auch, verführt. Was «Il buco» in seiner minimalistischen und dennoch mitreissenden Schau so grossartig gelingt, ist ein ästhetisches und existenzielles Sowohl-als-auch: Rationalität und Staunen, Beherrschung und Auslieferung, Moderne und Archaik. Der verschlingende Höhlenraum wird am Schluss mit schwarzer Tinte als Plan auf Papier gezeichnet und damit verfügbar gemacht, während offenbar übersinnliche Geisterstimmen die Wolkenlandschaften erfüllen.
Gegen Schluss kicken Männer einen Ball direkt über dem Abgrund hin und her. Unterschwellige Konflikte kompensieren auch wir oft im Spiel, versuchen naiv und pragmatisch das zu bewältigen, was sich so furchteinflössend und rätselhaft als Graben und Grab vor einem öffnet. Vielleicht ist die stumme Kommunikation in der Höhle eine Möglichkeit, die hilft. Rufe und Pfiffe sind in diesem Film wichtig, gesendet und empfangen von Menschen. Sie verhallen in scheinbar unendlichen Räumen.
Frammartinos Naturstudie ist zeitgemäss, indem sie mit leisem Gespür über unser Umwelt- und Naturverhältnis forscht. Dies gelingt ihr mit Verführungskraft, weil er alles mit seinen ureigenen filmischen Mitteln reflektiert. Der Regisseur denkt und träumt den Kinosaal selbst als Höhle. Deshalb sollte man den Film auch dort erleben! Gleich in den ersten Minuten blicken wir als Publikum von unten aus der Tiefe hinauf, während oben Kühe direkt ins Dunkel des Kinosaals hinunter glotzen.
Titelbild: Blick aus dem Loch in die Oberwelt